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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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Gesprächen suchten; die Jungen hingegen erhitzten
ihre gemeine Phantasie an den gemeinen unpoeti¬
schen Machwerken oder vielmehr, sie suchten hier die
bessere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht
zeigte. Die Romane zerfielen hauptsächlich in
zwei Arten. Die eine enthielt den Ausdruck der
üblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jäm¬
merlichen Briefwechseln und Verführungsgeschich¬
ten, die andere bestand aus derben Ritterroma¬
nen. Die Mädchen hielten sich mit großem In¬
teresse an die erste Art und ließen sich dazu von
ihren theilnehmenden Liebhabern sattsam küssen
und liebkosen; uns Knaben waren aber diese
prosaischen und unsinnlichen Schilderungen einer
verwerflichen Sinnlichkeit glücklicher Weise noch
ungenießbar und wir begnügten uns damit, ir¬
gend eine Rittergeschichte zu ergreifen und uns
mit derselben zurückzuziehen. Die unzweideutige
Genugthuung, welche in diesen groben Dichtun¬
gen waltete, war meinen angeregten Gefühlen
wohlthätig und gab ihnen Gestalt und Namen.
Wir wußten die schönsten Geschichten bald aus¬
wendig und spielten sie, wo wir gingen und stan¬

Geſpraͤchen ſuchten; die Jungen hingegen erhitzten
ihre gemeine Phantaſie an den gemeinen unpoeti¬
ſchen Machwerken oder vielmehr, ſie ſuchten hier die
beſſere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht
zeigte. Die Romane zerfielen hauptſaͤchlich in
zwei Arten. Die eine enthielt den Ausdruck der
uͤblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jaͤm¬
merlichen Briefwechſeln und Verfuͤhrungsgeſchich¬
ten, die andere beſtand aus derben Ritterroma¬
nen. Die Maͤdchen hielten ſich mit großem In¬
tereſſe an die erſte Art und ließen ſich dazu von
ihren theilnehmenden Liebhabern ſattſam kuͤſſen
und liebkoſen; uns Knaben waren aber dieſe
proſaiſchen und unſinnlichen Schilderungen einer
verwerflichen Sinnlichkeit gluͤcklicher Weiſe noch
ungenießbar und wir begnuͤgten uns damit, ir¬
gend eine Rittergeſchichte zu ergreifen und uns
mit derſelben zuruͤckzuziehen. Die unzweideutige
Genugthuung, welche in dieſen groben Dichtun¬
gen waltete, war meinen angeregten Gefuͤhlen
wohlthaͤtig und gab ihnen Geſtalt und Namen.
Wir wußten die ſchoͤnſten Geſchichten bald aus¬
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[283/0297] Geſpraͤchen ſuchten; die Jungen hingegen erhitzten ihre gemeine Phantaſie an den gemeinen unpoeti¬ ſchen Machwerken oder vielmehr, ſie ſuchten hier die beſſere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte. Die Romane zerfielen hauptſaͤchlich in zwei Arten. Die eine enthielt den Ausdruck der uͤblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jaͤm¬ merlichen Briefwechſeln und Verfuͤhrungsgeſchich¬ ten, die andere beſtand aus derben Ritterroma¬ nen. Die Maͤdchen hielten ſich mit großem In¬ tereſſe an die erſte Art und ließen ſich dazu von ihren theilnehmenden Liebhabern ſattſam kuͤſſen und liebkoſen; uns Knaben waren aber dieſe proſaiſchen und unſinnlichen Schilderungen einer verwerflichen Sinnlichkeit gluͤcklicher Weiſe noch ungenießbar und wir begnuͤgten uns damit, ir¬ gend eine Rittergeſchichte zu ergreifen und uns mit derſelben zuruͤckzuziehen. Die unzweideutige Genugthuung, welche in dieſen groben Dichtun¬ gen waltete, war meinen angeregten Gefuͤhlen wohlthaͤtig und gab ihnen Geſtalt und Namen. Wir wußten die ſchoͤnſten Geſchichten bald aus¬ wendig und ſpielten ſie, wo wir gingen und ſtan¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/297>, abgerufen am 22.11.2024.