Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Gretchens Kammer. Ich stützte meinen Kopf
auf beide Hände und sah mit sehnenden Blicken
hinüber, besonders in die vom Lichte halb be¬
streifte Vertiefung, wo das Stroh lag. Da
regte es sich im Dunkel, athemlos sah ich hin
und jetzt stand eine weiße Gestalt in jenem Win¬
kel; es war Gretchen, wie ich sie zuletzt gesehen
hatte. Mich schauerte es vom Wirbel bis zur
Zehe, meine Zähne schlugen zusammen, während
doch ein mächtiges Gefühl glücklicher Ueberra¬
schung mich durchzuckte und erwärmte. Ja, es
war Gretchen, es war ihr Geist, obgleich ich in
der Entfernung ihre Züge nicht unterscheiden
konnte, was die Erscheinung noch geisterhafter
machte. Sie schien mit dunklen Blicken in dem
Raume umherzusuchen, ich richtete mich empor,
es zog mich vorwärts, wie mit gewaltigen, un¬
sichtbaren Händen, und während mein Herz hör¬
bar klopfte, schritt ich über die Bänke gegen das
Proscenium hin, jeden Schritt einen Augenblick
anhaltend. Die Pelzumhüllung machte meine
Füße unhörbar, so daß mich die Gestalt nicht
bemerkte, bis ich, an dem Soufleurkasten hinauf¬

Gretchens Kammer. Ich ſtuͤtzte meinen Kopf
auf beide Haͤnde und ſah mit ſehnenden Blicken
hinuͤber, beſonders in die vom Lichte halb be¬
ſtreifte Vertiefung, wo das Stroh lag. Da
regte es ſich im Dunkel, athemlos ſah ich hin
und jetzt ſtand eine weiße Geſtalt in jenem Win¬
kel; es war Gretchen, wie ich ſie zuletzt geſehen
hatte. Mich ſchauerte es vom Wirbel bis zur
Zehe, meine Zaͤhne ſchlugen zuſammen, waͤhrend
doch ein maͤchtiges Gefuͤhl gluͤcklicher Ueberra¬
ſchung mich durchzuckte und erwaͤrmte. Ja, es
war Gretchen, es war ihr Geiſt, obgleich ich in
der Entfernung ihre Zuͤge nicht unterſcheiden
konnte, was die Erſcheinung noch geiſterhafter
machte. Sie ſchien mit dunklen Blicken in dem
Raume umherzuſuchen, ich richtete mich empor,
es zog mich vorwaͤrts, wie mit gewaltigen, un¬
ſichtbaren Haͤnden, und waͤhrend mein Herz hoͤr¬
bar klopfte, ſchritt ich uͤber die Baͤnke gegen das
Proſcenium hin, jeden Schritt einen Augenblick
anhaltend. Die Pelzumhuͤllung machte meine
Fuͤße unhoͤrbar, ſo daß mich die Geſtalt nicht
bemerkte, bis ich, an dem Soufleurkaſten hinauf¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0290" n="276"/>
Gretchens Kammer. Ich &#x017F;tu&#x0364;tzte meinen Kopf<lb/>
auf beide Ha&#x0364;nde und &#x017F;ah mit &#x017F;ehnenden Blicken<lb/>
hinu&#x0364;ber, be&#x017F;onders in die vom Lichte halb be¬<lb/>
&#x017F;treifte Vertiefung, wo das Stroh lag. Da<lb/>
regte es &#x017F;ich im Dunkel, athemlos &#x017F;ah ich hin<lb/>
und jetzt &#x017F;tand eine weiße Ge&#x017F;talt in jenem Win¬<lb/>
kel; es war Gretchen, wie ich &#x017F;ie zuletzt ge&#x017F;ehen<lb/>
hatte. Mich &#x017F;chauerte es vom Wirbel bis zur<lb/>
Zehe, meine Za&#x0364;hne &#x017F;chlugen zu&#x017F;ammen, wa&#x0364;hrend<lb/>
doch ein ma&#x0364;chtiges Gefu&#x0364;hl glu&#x0364;cklicher Ueberra¬<lb/>
&#x017F;chung mich durchzuckte und erwa&#x0364;rmte. Ja, es<lb/>
war Gretchen, es war ihr Gei&#x017F;t, obgleich ich in<lb/>
der Entfernung ihre Zu&#x0364;ge nicht unter&#x017F;cheiden<lb/>
konnte, was die Er&#x017F;cheinung noch gei&#x017F;terhafter<lb/>
machte. Sie &#x017F;chien mit dunklen Blicken in dem<lb/>
Raume umherzu&#x017F;uchen, ich richtete mich empor,<lb/>
es zog mich vorwa&#x0364;rts, wie mit gewaltigen, un¬<lb/>
&#x017F;ichtbaren Ha&#x0364;nden, und wa&#x0364;hrend mein Herz ho&#x0364;<lb/>
bar klopfte, &#x017F;chritt ich u&#x0364;ber die Ba&#x0364;nke gegen das<lb/>
Pro&#x017F;cenium hin, jeden Schritt einen Augenblick<lb/>
anhaltend. Die Pelzumhu&#x0364;llung machte meine<lb/>
Fu&#x0364;ße unho&#x0364;rbar, &#x017F;o daß mich die Ge&#x017F;talt nicht<lb/>
bemerkte, bis ich, an dem Soufleurka&#x017F;ten hinauf¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0290] Gretchens Kammer. Ich ſtuͤtzte meinen Kopf auf beide Haͤnde und ſah mit ſehnenden Blicken hinuͤber, beſonders in die vom Lichte halb be¬ ſtreifte Vertiefung, wo das Stroh lag. Da regte es ſich im Dunkel, athemlos ſah ich hin und jetzt ſtand eine weiße Geſtalt in jenem Win¬ kel; es war Gretchen, wie ich ſie zuletzt geſehen hatte. Mich ſchauerte es vom Wirbel bis zur Zehe, meine Zaͤhne ſchlugen zuſammen, waͤhrend doch ein maͤchtiges Gefuͤhl gluͤcklicher Ueberra¬ ſchung mich durchzuckte und erwaͤrmte. Ja, es war Gretchen, es war ihr Geiſt, obgleich ich in der Entfernung ihre Zuͤge nicht unterſcheiden konnte, was die Erſcheinung noch geiſterhafter machte. Sie ſchien mit dunklen Blicken in dem Raume umherzuſuchen, ich richtete mich empor, es zog mich vorwaͤrts, wie mit gewaltigen, un¬ ſichtbaren Haͤnden, und waͤhrend mein Herz hoͤr¬ bar klopfte, ſchritt ich uͤber die Baͤnke gegen das Proſcenium hin, jeden Schritt einen Augenblick anhaltend. Die Pelzumhuͤllung machte meine Fuͤße unhoͤrbar, ſo daß mich die Geſtalt nicht bemerkte, bis ich, an dem Soufleurkaſten hinauf¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/290
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/290>, abgerufen am 22.11.2024.