Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Hause, und sagte mir zu diesem Zwecke ein klei¬
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie
erstaunte sie, als ich nur die ersten Worte trocken
hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und
nicht weiter konnte! -- Das Essen dampfte auf
dem Tische, es war ganz still in der Stube, die
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne
Erfolg; ich blieb stumm und niedergeschlagen,
und sie ließ es für diesmal bewenden, da sie mein
Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt.
Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt
und sie wurde nun ernstlich bekümmert und sagte:
"Warum willst Du nicht beten? Schämst Du
Dich?" Das war nun zwar der Fall, ich ver¬
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich
es gethan, es doch nicht wahr gewesen wäre in
dem Sinne, wie sie es verstand. Der gedeckte
Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich
ich von einem solchen noch nichts wußte, und das
Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den
duftenden Schüsseln wurde zu einer Ceremonie,

Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie
erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken
hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und
nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf
dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne
Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen,
und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein
Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt.
Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt
und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte:
»Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du
Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich
es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in
dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte
Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich
ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das
Haͤndefalten nebſt dem feierlichen Beten vor den
duftenden Schuͤſſeln wurde zu einer Ceremonie,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0164" n="150"/>
Hau&#x017F;e, und &#x017F;agte mir zu die&#x017F;em Zwecke ein klei¬<lb/>
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,<lb/>
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie<lb/>
er&#x017F;taunte &#x017F;ie, als ich nur die er&#x017F;ten Worte trocken<lb/>
hervorbrachte und dann plo&#x0364;tzlich ver&#x017F;tummte und<lb/>
nicht weiter konnte! &#x2014; Das E&#x017F;&#x017F;en dampfte auf<lb/>
dem Ti&#x017F;che, es war ganz &#x017F;till in der Stube, die<lb/>
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬<lb/>
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne<lb/>
Erfolg; ich blieb &#x017F;tumm und niederge&#x017F;chlagen,<lb/>
und &#x017F;ie ließ es fu&#x0364;r diesmal bewenden, da &#x017F;ie mein<lb/>
Benehmen fu&#x0364;r eine gewo&#x0364;hnliche Kinderlaune hielt.<lb/>
Am folgenden Tage wiederholte &#x017F;ich der Auftritt<lb/>
und &#x017F;ie wurde nun ern&#x017F;tlich beku&#x0364;mmert und &#x017F;agte:<lb/>
»Warum will&#x017F;t Du nicht beten? Scha&#x0364;m&#x017F;t Du<lb/>
Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬<lb/>
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich<lb/>
es gethan, es doch nicht wahr gewe&#x017F;en wa&#x0364;re in<lb/>
dem Sinne, wie &#x017F;ie es ver&#x017F;tand. Der gedeckte<lb/>
Ti&#x017F;ch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich<lb/>
ich von einem &#x017F;olchen noch nichts wußte, und das<lb/>
Ha&#x0364;ndefalten neb&#x017F;t dem feierlichen Beten vor den<lb/>
duftenden Schu&#x0364;&#x017F;&#x017F;eln wurde zu einer Ceremonie,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0164] Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬ nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬ vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen, und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt. Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte: »Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬ mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das Haͤndefalten nebſt dem feierlichen Beten vor den duftenden Schuͤſſeln wurde zu einer Ceremonie,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/164
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/164>, abgerufen am 22.11.2024.