Hause, und sagte mir zu diesem Zwecke ein klei¬ nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erstaunte sie, als ich nur die ersten Worte trocken hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und nicht weiter konnte! -- Das Essen dampfte auf dem Tische, es war ganz still in der Stube, die Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬ vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne Erfolg; ich blieb stumm und niedergeschlagen, und sie ließ es für diesmal bewenden, da sie mein Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt. Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt und sie wurde nun ernstlich bekümmert und sagte: "Warum willst Du nicht beten? Schämst Du Dich?" Das war nun zwar der Fall, ich ver¬ mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es gethan, es doch nicht wahr gewesen wäre in dem Sinne, wie sie es verstand. Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich ich von einem solchen noch nichts wußte, und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schüsseln wurde zu einer Ceremonie,
Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬ nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬ vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen, und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt. Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte: »Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬ mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das Haͤndefalten nebſt dem feierlichen Beten vor den duftenden Schuͤſſeln wurde zu einer Ceremonie,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0164"n="150"/>
Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬<lb/>
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,<lb/>
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie<lb/>
erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken<lb/>
hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und<lb/>
nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf<lb/>
dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die<lb/>
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬<lb/>
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne<lb/>
Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen,<lb/>
und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein<lb/>
Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt.<lb/>
Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt<lb/>
und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte:<lb/>
»Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du<lb/>
Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬<lb/>
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich<lb/>
es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in<lb/>
dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte<lb/>
Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich<lb/>
ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das<lb/>
Haͤndefalten nebſt dem feierlichen Beten vor den<lb/>
duftenden Schuͤſſeln wurde zu einer Ceremonie,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[150/0164]
Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie
erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken
hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und
nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf
dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne
Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen,
und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein
Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt.
Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt
und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte:
»Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du
Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich
es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in
dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte
Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich
ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das
Haͤndefalten nebſt dem feierlichen Beten vor den
duftenden Schuͤſſeln wurde zu einer Ceremonie,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/164>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.