Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.weise, in welcher die zwei Fünfzigjährigen noch andere Gewohnheiten und Sitten, Grundsätze und Hoffnungen annahmen, als sie bisher geübt. Je mehr Geld sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten sie welches zu haben, und je weniger sie hatten, desto hartnäckiger dachten sie reich zu werden und es dem Andern zuvorzuthun. Sie ließen sich zu jedem Schwindel verleiten und setzten auch Jahr aus Jahr ein in alle deutschen Lotterien, deren Loose massenhaft in Seldwyla circulirten. Aber nie bekamen sie einen Thaler Gewinnst zu Gesicht, sondern hörten nur immer vom Gewinnen anderer Leute, und wie sie selbst beinahe gewonnen hätten, indessen diese Leidenschaft ein regelmäßiger Geldabfluß für sie war. Bisweilen machten sich die Seldwyler den Spaß, beide Bauern, ohne ihr Wissen, am gleichen Loose Theil nehmen zu lassen, so daß Beide die Hoffnung auf Unterdrückung und Vernichtung des Andern auf ein und dasselbe Loos setzten. Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo Jeder in einer Spelunke sein Hauptquartier hatte, sich den Kopf aufblasen und zu den lächerlichsten Ausgaben und einem elenden und ungeschickten Schlemmen verleiten ließ, bei welchem ihm heimlich doch selber das Herz blutete, also daß Beide, welche eigentlich nur in diesem Hader lebten, um für keine Dummköpfe zu gelten, nun solche von der besten Sorte darstellten und von Jedermann dafür angesehen wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen sie verdrossen zu Hause oder gingen ihrer Arbeit weise, in welcher die zwei Fünfzigjährigen noch andere Gewohnheiten und Sitten, Grundsätze und Hoffnungen annahmen, als sie bisher geübt. Je mehr Geld sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten sie welches zu haben, und je weniger sie hatten, desto hartnäckiger dachten sie reich zu werden und es dem Andern zuvorzuthun. Sie ließen sich zu jedem Schwindel verleiten und setzten auch Jahr aus Jahr ein in alle deutschen Lotterien, deren Loose massenhaft in Seldwyla circulirten. Aber nie bekamen sie einen Thaler Gewinnst zu Gesicht, sondern hörten nur immer vom Gewinnen anderer Leute, und wie sie selbst beinahe gewonnen hätten, indessen diese Leidenschaft ein regelmäßiger Geldabfluß für sie war. Bisweilen machten sich die Seldwyler den Spaß, beide Bauern, ohne ihr Wissen, am gleichen Loose Theil nehmen zu lassen, so daß Beide die Hoffnung auf Unterdrückung und Vernichtung des Andern auf ein und dasselbe Loos setzten. Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo Jeder in einer Spelunke sein Hauptquartier hatte, sich den Kopf aufblasen und zu den lächerlichsten Ausgaben und einem elenden und ungeschickten Schlemmen verleiten ließ, bei welchem ihm heimlich doch selber das Herz blutete, also daß Beide, welche eigentlich nur in diesem Hader lebten, um für keine Dummköpfe zu gelten, nun solche von der besten Sorte darstellten und von Jedermann dafür angesehen wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen sie verdrossen zu Hause oder gingen ihrer Arbeit <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0029"/> weise, in welcher die zwei Fünfzigjährigen noch andere Gewohnheiten und Sitten, Grundsätze und Hoffnungen annahmen, als sie bisher geübt. Je mehr Geld sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten sie welches zu haben, und je weniger sie hatten, desto hartnäckiger dachten sie reich zu werden und es dem Andern zuvorzuthun. Sie ließen sich zu jedem Schwindel verleiten und setzten auch Jahr aus Jahr ein in alle deutschen Lotterien, deren Loose massenhaft in Seldwyla circulirten. Aber nie bekamen sie einen Thaler Gewinnst zu Gesicht, sondern hörten nur immer vom Gewinnen anderer Leute, und wie sie selbst beinahe gewonnen hätten, indessen diese Leidenschaft ein regelmäßiger Geldabfluß für sie war. Bisweilen machten sich die Seldwyler den Spaß, beide Bauern, ohne ihr Wissen, am gleichen Loose Theil nehmen zu lassen, so daß Beide die Hoffnung auf Unterdrückung und Vernichtung des Andern auf ein und dasselbe Loos setzten. Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo Jeder in einer Spelunke sein Hauptquartier hatte, sich den Kopf aufblasen und zu den lächerlichsten Ausgaben und einem elenden und ungeschickten Schlemmen verleiten ließ, bei welchem ihm heimlich doch selber das Herz blutete, also daß Beide, welche eigentlich nur in diesem Hader lebten, um für keine Dummköpfe zu gelten, nun solche von der besten Sorte darstellten und von Jedermann dafür angesehen wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen sie verdrossen zu Hause oder gingen ihrer Arbeit<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
weise, in welcher die zwei Fünfzigjährigen noch andere Gewohnheiten und Sitten, Grundsätze und Hoffnungen annahmen, als sie bisher geübt. Je mehr Geld sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten sie welches zu haben, und je weniger sie hatten, desto hartnäckiger dachten sie reich zu werden und es dem Andern zuvorzuthun. Sie ließen sich zu jedem Schwindel verleiten und setzten auch Jahr aus Jahr ein in alle deutschen Lotterien, deren Loose massenhaft in Seldwyla circulirten. Aber nie bekamen sie einen Thaler Gewinnst zu Gesicht, sondern hörten nur immer vom Gewinnen anderer Leute, und wie sie selbst beinahe gewonnen hätten, indessen diese Leidenschaft ein regelmäßiger Geldabfluß für sie war. Bisweilen machten sich die Seldwyler den Spaß, beide Bauern, ohne ihr Wissen, am gleichen Loose Theil nehmen zu lassen, so daß Beide die Hoffnung auf Unterdrückung und Vernichtung des Andern auf ein und dasselbe Loos setzten. Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo Jeder in einer Spelunke sein Hauptquartier hatte, sich den Kopf aufblasen und zu den lächerlichsten Ausgaben und einem elenden und ungeschickten Schlemmen verleiten ließ, bei welchem ihm heimlich doch selber das Herz blutete, also daß Beide, welche eigentlich nur in diesem Hader lebten, um für keine Dummköpfe zu gelten, nun solche von der besten Sorte darstellten und von Jedermann dafür angesehen wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen sie verdrossen zu Hause oder gingen ihrer Arbeit
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Zitationshilfe: | Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_dorfe_1910/29>, abgerufen am 16.02.2025. |