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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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empfindsamen Träumen nachdenkt, entläuft ihr plötz-
lich ein Rind, welches im blinden Eifer über eine
Wassergraben sezt, der die Gränze einer andern Weide
war. In aller Angst wathet die kleine Hirtin den
Graben durch und ihrem Rinde nach; die zwei übri-
gen folgten ihr von selbst. Sie mußte eine lange
Strecke laufen, ehe sie dasselbe einholen konnte; end-
lich gelang es ihr. Indem sie nun ein wenig ausru-
hen wollte, sahe sie um sich herum und bemerkte, daß
sie sich auf einer ganz fremden Trift befand, als sie in
einiger Ferne einen Hirtenknaben gewahr wurde, wel-
cher unter einem Baume saß, und -- o wundervolles
Glück! in einem Buche las. Ihr Herz schlug
laut vor Freude, und mit dem zweiten Gedanken war
sie auch schon bei dem Knaben. Drei Worte, in drei
Augenblicken gesagt, machten einander auf immer be-
kannt, und eine gegenseitige Neigung zum Lesen schloß
sogleich das Band der Freundschaft um ihre Herzen.
Jezt hätte ein Jupiter vom Himmel steigen und in eins
ihrer Rinder sich verwandeln können, die Dichterin
würde es nicht bemerkt haben, so sehr war ihre Be-
gierde auf das Buch geheftet, welches der junge Hirte
las. Es war dieses Buch eins von den Originalen,
welche damals die Ehre der deutschen Schriftsteller
ausmachten. In diese Klasse gehörten: die schöne
Melusine, der gehörnte Siegfried, Peter mit dem

empfindſamen Traͤumen nachdenkt, entlaͤuft ihr ploͤtz-
lich ein Rind, welches im blinden Eifer uͤber eine
Waſſergraben ſezt, der die Graͤnze einer andern Weide
war. In aller Angſt wathet die kleine Hirtin den
Graben durch und ihrem Rinde nach; die zwei uͤbri-
gen folgten ihr von ſelbſt. Sie mußte eine lange
Strecke laufen, ehe ſie daſſelbe einholen konnte; end-
lich gelang es ihr. Indem ſie nun ein wenig ausru-
hen wollte, ſahe ſie um ſich herum und bemerkte, daß
ſie ſich auf einer ganz fremden Trift befand, als ſie in
einiger Ferne einen Hirtenknaben gewahr wurde, wel-
cher unter einem Baume ſaß, und — o wundervolles
Gluͤck! in einem Buche las. Ihr Herz ſchlug
laut vor Freude, und mit dem zweiten Gedanken war
ſie auch ſchon bei dem Knaben. Drei Worte, in drei
Augenblicken geſagt, machten einander auf immer be-
kannt, und eine gegenſeitige Neigung zum Leſen ſchloß
ſogleich das Band der Freundſchaft um ihre Herzen.
Jezt haͤtte ein Jupiter vom Himmel ſteigen und in eins
ihrer Rinder ſich verwandeln koͤnnen, die Dichterin
wuͤrde es nicht bemerkt haben, ſo ſehr war ihre Be-
gierde auf das Buch geheftet, welches der junge Hirte
las. Es war dieſes Buch eins von den Originalen,
welche damals die Ehre der deutſchen Schriftſteller
ausmachten. In dieſe Klaſſe gehoͤrten: die ſchoͤne
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[24/0056] empfindſamen Traͤumen nachdenkt, entlaͤuft ihr ploͤtz- lich ein Rind, welches im blinden Eifer uͤber eine Waſſergraben ſezt, der die Graͤnze einer andern Weide war. In aller Angſt wathet die kleine Hirtin den Graben durch und ihrem Rinde nach; die zwei uͤbri- gen folgten ihr von ſelbſt. Sie mußte eine lange Strecke laufen, ehe ſie daſſelbe einholen konnte; end- lich gelang es ihr. Indem ſie nun ein wenig ausru- hen wollte, ſahe ſie um ſich herum und bemerkte, daß ſie ſich auf einer ganz fremden Trift befand, als ſie in einiger Ferne einen Hirtenknaben gewahr wurde, wel- cher unter einem Baume ſaß, und — o wundervolles Gluͤck! in einem Buche las. Ihr Herz ſchlug laut vor Freude, und mit dem zweiten Gedanken war ſie auch ſchon bei dem Knaben. Drei Worte, in drei Augenblicken geſagt, machten einander auf immer be- kannt, und eine gegenſeitige Neigung zum Leſen ſchloß ſogleich das Band der Freundſchaft um ihre Herzen. Jezt haͤtte ein Jupiter vom Himmel ſteigen und in eins ihrer Rinder ſich verwandeln koͤnnen, die Dichterin wuͤrde es nicht bemerkt haben, ſo ſehr war ihre Be- gierde auf das Buch geheftet, welches der junge Hirte las. Es war dieſes Buch eins von den Originalen, welche damals die Ehre der deutſchen Schriftſteller ausmachten. In dieſe Klaſſe gehoͤrten: die ſchoͤne Meluſine, der gehoͤrnte Siegfried, Peter mit dem

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/56>, abgerufen am 22.11.2024.