Auch noch in ihrem fünf und sechzigsten Jahre, wo Alter, Hinfälligkeit und der grausamste häusliche Zu- stand ihr feines Nervengewebe beinahe zerrüttet hat- ten, konnte sie so singen, daß keine Nachtigall sie über- traf. Die höchsten Schwierigkeiten, welche ihr eige- nes Genie ihr in die Kehle gab, führte sie mit der Leich- tigkeit der im Fluge singenden Lerche aus; und mit der äußersten Höhe der Töne vereinigte sie zugleich ein Adagio, welches jeden, der sie hörte, bis zu Thränen durchdrang. Sie konnte mit unglaublicher Leichtigkeit in lauter kleinen Ringelkreisen die Stimme bis zum höchsten Triller erheben, und in lauter neuen uner- hörten Tönen schwebte sie allmählig wieder herab und schmolz in einen Seufzer zurück *). Zugleich konnte sie bei froher Laune theils in ihrer Kehle jedes Instrument auf das vollkommenste nachahmen. Dieses that sie theils pfeifend oft aus Tändelei, und war eben so glücklich in dieser Nebenvollkommenheit, als es nachher ihre Tochter als Dichterin wurde, wenn sie die Funken ihres herrli- chen Genies in Impromptües ausstreuete. Auch Dichte- rin war die Sängerin, ob sie gleich nicht schreiben konnte.
*) Das im Porstenschen Gesangbuche befindliche Lied: "Ach wie nichtig, ach wie flüchtig ist der Menschen Leben" wel- ches ihr Lieblingslied war, und woraus man auf ihre Den- kungsart schließen kann, hat sie noch in ihrem späten Alter mit einer so bewundernswürdigen Anmuth gesungen, daß ihre Kinder es nicht genug aussagen können.
a 4
Auch noch in ihrem fuͤnf und ſechzigſten Jahre, wo Alter, Hinfaͤlligkeit und der grauſamſte haͤusliche Zu- ſtand ihr feines Nervengewebe beinahe zerruͤttet hat- ten, konnte ſie ſo ſingen, daß keine Nachtigall ſie uͤber- traf. Die hoͤchſten Schwierigkeiten, welche ihr eige- nes Genie ihr in die Kehle gab, fuͤhrte ſie mit der Leich- tigkeit der im Fluge ſingenden Lerche aus; und mit der aͤußerſten Hoͤhe der Toͤne vereinigte ſie zugleich ein Adagio, welches jeden, der ſie hoͤrte, bis zu Thraͤnen durchdrang. Sie konnte mit unglaublicher Leichtigkeit in lauter kleinen Ringelkreiſen die Stimme bis zum hoͤchſten Triller erheben, und in lauter neuen uner- hoͤrten Toͤnen ſchwebte ſie allmaͤhlig wieder herab und ſchmolz in einen Seufzer zuruͤck *). Zugleich konnte ſie bei froher Laune theils in ihrer Kehle jedes Inſtrument auf das vollkommenſte nachahmen. Dieſes that ſie theils pfeifend oft aus Taͤndelei, und war eben ſo gluͤcklich in dieſer Nebenvollkommenheit, als es nachher ihre Tochter als Dichterin wurde, wenn ſie die Funken ihres herrli- chen Genies in Impromptuͤes ausſtreuete. Auch Dichte- rin war die Saͤngerin, ob ſie gleich nicht ſchreiben konnte.
*) Das im Porſtenſchen Geſangbuche befindliche Lied: „Ach wie nichtig, ach wie fluͤchtig iſt der Menſchen Leben„ wel- ches ihr Lieblingslied war, und woraus man auf ihre Den- kungsart ſchließen kann, hat ſie noch in ihrem ſpaͤten Alter mit einer ſo bewundernswuͤrdigen Anmuth geſungen, daß ihre Kinder es nicht genug ausſagen koͤnnen.
a 4
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0039"n="7"/>
Auch noch in ihrem fuͤnf und ſechzigſten Jahre, wo<lb/>
Alter, Hinfaͤlligkeit und der grauſamſte haͤusliche Zu-<lb/>ſtand ihr feines Nervengewebe beinahe zerruͤttet hat-<lb/>
ten, konnte ſie ſo ſingen, daß keine Nachtigall ſie uͤber-<lb/>
traf. Die hoͤchſten Schwierigkeiten, welche ihr eige-<lb/>
nes Genie ihr in die Kehle gab, fuͤhrte ſie mit der Leich-<lb/>
tigkeit der im Fluge ſingenden Lerche aus; und mit<lb/>
der aͤußerſten Hoͤhe der Toͤne vereinigte ſie zugleich ein<lb/>
Adagio, welches jeden, der ſie hoͤrte, bis zu Thraͤnen<lb/>
durchdrang. Sie konnte mit unglaublicher Leichtigkeit<lb/>
in lauter kleinen Ringelkreiſen die Stimme bis zum<lb/>
hoͤchſten Triller erheben, und in lauter neuen uner-<lb/>
hoͤrten Toͤnen ſchwebte ſie allmaͤhlig wieder herab und<lb/>ſchmolz in einen Seufzer zuruͤck <noteplace="foot"n="*)">Das im Porſtenſchen Geſangbuche befindliche Lied: „Ach<lb/>
wie nichtig, ach wie fluͤchtig iſt der Menſchen Leben„ wel-<lb/>
ches ihr Lieblingslied war, und woraus man auf ihre Den-<lb/>
kungsart ſchließen kann, hat ſie noch in ihrem ſpaͤten Alter<lb/>
mit einer ſo bewundernswuͤrdigen Anmuth geſungen, daß<lb/>
ihre Kinder es nicht genug ausſagen koͤnnen.</note>. Zugleich konnte ſie<lb/>
bei froher Laune theils in ihrer Kehle jedes Inſtrument<lb/>
auf das vollkommenſte nachahmen. Dieſes that ſie theils<lb/>
pfeifend oft aus Taͤndelei, und war eben ſo gluͤcklich in<lb/>
dieſer Nebenvollkommenheit, als es nachher ihre Tochter<lb/>
als Dichterin wurde, wenn ſie die Funken ihres herrli-<lb/>
chen Genies in Impromptuͤes ausſtreuete. Auch Dichte-<lb/>
rin war die Saͤngerin, ob ſie gleich nicht ſchreiben konnte.<lb/><fwplace="bottom"type="sig">a 4</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[7/0039]
Auch noch in ihrem fuͤnf und ſechzigſten Jahre, wo
Alter, Hinfaͤlligkeit und der grauſamſte haͤusliche Zu-
ſtand ihr feines Nervengewebe beinahe zerruͤttet hat-
ten, konnte ſie ſo ſingen, daß keine Nachtigall ſie uͤber-
traf. Die hoͤchſten Schwierigkeiten, welche ihr eige-
nes Genie ihr in die Kehle gab, fuͤhrte ſie mit der Leich-
tigkeit der im Fluge ſingenden Lerche aus; und mit
der aͤußerſten Hoͤhe der Toͤne vereinigte ſie zugleich ein
Adagio, welches jeden, der ſie hoͤrte, bis zu Thraͤnen
durchdrang. Sie konnte mit unglaublicher Leichtigkeit
in lauter kleinen Ringelkreiſen die Stimme bis zum
hoͤchſten Triller erheben, und in lauter neuen uner-
hoͤrten Toͤnen ſchwebte ſie allmaͤhlig wieder herab und
ſchmolz in einen Seufzer zuruͤck *). Zugleich konnte ſie
bei froher Laune theils in ihrer Kehle jedes Inſtrument
auf das vollkommenſte nachahmen. Dieſes that ſie theils
pfeifend oft aus Taͤndelei, und war eben ſo gluͤcklich in
dieſer Nebenvollkommenheit, als es nachher ihre Tochter
als Dichterin wurde, wenn ſie die Funken ihres herrli-
chen Genies in Impromptuͤes ausſtreuete. Auch Dichte-
rin war die Saͤngerin, ob ſie gleich nicht ſchreiben konnte.
*) Das im Porſtenſchen Geſangbuche befindliche Lied: „Ach
wie nichtig, ach wie fluͤchtig iſt der Menſchen Leben„ wel-
ches ihr Lieblingslied war, und woraus man auf ihre Den-
kungsart ſchließen kann, hat ſie noch in ihrem ſpaͤten Alter
mit einer ſo bewundernswuͤrdigen Anmuth geſungen, daß
ihre Kinder es nicht genug ausſagen koͤnnen.
a 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/39>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.