Genieß des gegenwärtgen Tages Stunden, Der künftge bleibt noch ungewiß. Hast Du nicht schon des Schicksals Arm empfunden, Der grimmig Dir am Herzen riß?
Ward nicht Dein Auge zweymal schon verschleyert Vom Todes Dunkel? sah nicht jüngst Dein G *, der Dich bey Hundert Bechern feyert, Den Weg, den Du beynahe gingst?
Sah nicht Dein Geist schon jene Lorbeerhaine, Wo Pindar an Homerens Hand Vertraulich geht, und Sapho's Schatten keine Ganz düstre Trauergrotte fand?
Ein Gott, ein Gott befreyte von dem Grabe Den deutschen Tirteus, welcher nur Sein Leben schätzt, als eine neue Gabe Der allbeseelenden Natur,
Weil er Dich funfzig Lenze zu genießen Noch hoffet, und von Dir geführt Durchs Blumenthal den Balsamduft der süßen Bethauten Rose stärker spürt.
Genieß des gegenwaͤrtgen Tages Stunden, Der kuͤnftge bleibt noch ungewiß. Haſt Du nicht ſchon des Schickſals Arm empfunden, Der grimmig Dir am Herzen riß?
Ward nicht Dein Auge zweymal ſchon verſchleyert Vom Todes Dunkel? ſah nicht juͤngſt Dein G *, der Dich bey Hundert Bechern feyert, Den Weg, den Du beynahe gingſt?
Sah nicht Dein Geiſt ſchon jene Lorbeerhaine, Wo Pindar an Homerens Hand Vertraulich geht, und Sapho’s Schatten keine Ganz duͤſtre Trauergrotte fand?
Ein Gott, ein Gott befreyte von dem Grabe Den deutſchen Tirteus, welcher nur Sein Leben ſchaͤtzt, als eine neue Gabe Der allbeſeelenden Natur,
Weil er Dich funfzig Lenze zu genießen Noch hoffet, und von Dir gefuͤhrt Durchs Blumenthal den Balſamduft der ſuͤßen Bethauten Roſe ſtaͤrker ſpuͤrt.
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Genieß des gegenwaͤrtgen Tages Stunden,
Der kuͤnftge bleibt noch ungewiß.
Haſt Du nicht ſchon des Schickſals Arm empfunden,
Der grimmig Dir am Herzen riß?
Ward nicht Dein Auge zweymal ſchon verſchleyert
Vom Todes Dunkel? ſah nicht juͤngſt
Dein G *, der Dich bey Hundert Bechern feyert,
Den Weg, den Du beynahe gingſt?
Sah nicht Dein Geiſt ſchon jene Lorbeerhaine,
Wo Pindar an Homerens Hand
Vertraulich geht, und Sapho’s Schatten keine
Ganz duͤſtre Trauergrotte fand?
Ein Gott, ein Gott befreyte von dem Grabe
Den deutſchen Tirteus, welcher nur
Sein Leben ſchaͤtzt, als eine neue Gabe
Der allbeſeelenden Natur,
Weil er Dich funfzig Lenze zu genießen
Noch hoffet, und von Dir gefuͤhrt
Durchs Blumenthal den Balſamduft der ſuͤßen
Bethauten Roſe ſtaͤrker ſpuͤrt.
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/222>, abgerufen am 27.07.2024.
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