Sohn ward ihr zurückgeschickt, ohne daß sich jemals wieder eines Menschen Güte um ihn bekümmert hät- te. Sie gab ihn darauf in eine Handlung zur Lehr- probe, weil er aber seinen Sinn aufs Studieren ge- setzt hatte, wovon er sich für immer abgerissen sah, so hielt er nirgends aus, wurde bald hieher, bald dort- hin gethan, und zuletzt ward wenig oder nichts aus ihm, ob er gleich immer ordentlich und fleißig war, und Fähigkeit und Geschicklichkeit hatte. Auf die Weise sah er sein Glück für immer verschnitten, und nahm halb nothgedrungen vor zwölf Jahren eine Schul- lehrer-Stelle in Ruppin an, wo er rohe Kinder zu braven Menschen erzieht und bildet, die Liebe der Eltern hat, und von seinen Obern schon mehreremale öffent- lich in gedruckten Blättern gelobt worden ist. Auch ihm ist eine baldige Belohnung für seine Amtstreue zu wünschen.
So das Schicksal des Sohnes; der Tochter ihr Loos fiel schlimmer. Sie kam nach fünfjähriger, sitt- licher Aufsicht von der Realschule wieder zur Mutter nach Hause. Die Mutter, welche niemals mit ihren Kindern sich Rath gewußt hatte, glaubte nicht besser thun zu können, als wenn sie ihr Kind ihrem Bruder in Aufsicht übergäbe. Er, welcher ganz und gar nicht auf Charakter- und Geistesstimmung sich verstand, be-
Sohn ward ihr zuruͤckgeſchickt, ohne daß ſich jemals wieder eines Menſchen Guͤte um ihn bekuͤmmert haͤt- te. Sie gab ihn darauf in eine Handlung zur Lehr- probe, weil er aber ſeinen Sinn aufs Studieren ge- ſetzt hatte, wovon er ſich fuͤr immer abgeriſſen ſah, ſo hielt er nirgends aus, wurde bald hieher, bald dort- hin gethan, und zuletzt ward wenig oder nichts aus ihm, ob er gleich immer ordentlich und fleißig war, und Faͤhigkeit und Geſchicklichkeit hatte. Auf die Weiſe ſah er ſein Gluͤck fuͤr immer verſchnitten, und nahm halb nothgedrungen vor zwoͤlf Jahren eine Schul- lehrer-Stelle in Ruppin an, wo er rohe Kinder zu braven Menſchen erzieht und bildet, die Liebe der Eltern hat, und von ſeinen Obern ſchon mehreremale oͤffent- lich in gedruckten Blaͤttern gelobt worden iſt. Auch ihm iſt eine baldige Belohnung fuͤr ſeine Amtstreue zu wuͤnſchen.
So das Schickſal des Sohnes; der Tochter ihr Loos fiel ſchlimmer. Sie kam nach fuͤnfjaͤhriger, ſitt- licher Aufſicht von der Realſchule wieder zur Mutter nach Hauſe. Die Mutter, welche niemals mit ihren Kindern ſich Rath gewußt hatte, glaubte nicht beſſer thun zu koͤnnen, als wenn ſie ihr Kind ihrem Bruder in Aufſicht uͤbergaͤbe. Er, welcher ganz und gar nicht auf Charakter- und Geiſtesſtimmung ſich verſtand, be-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0142"n="110"/>
Sohn ward ihr zuruͤckgeſchickt, ohne daß ſich jemals<lb/>
wieder eines Menſchen Guͤte um ihn bekuͤmmert haͤt-<lb/>
te. Sie gab ihn darauf in eine Handlung zur Lehr-<lb/>
probe, weil er aber ſeinen Sinn aufs Studieren ge-<lb/>ſetzt hatte, wovon er ſich fuͤr immer abgeriſſen ſah,<lb/>ſo hielt er nirgends aus, wurde bald hieher, bald dort-<lb/>
hin gethan, und zuletzt ward wenig oder nichts aus<lb/>
ihm, ob er gleich immer ordentlich und fleißig war,<lb/>
und Faͤhigkeit und Geſchicklichkeit hatte. Auf die<lb/>
Weiſe ſah er ſein Gluͤck fuͤr immer verſchnitten, und<lb/>
nahm halb nothgedrungen vor zwoͤlf Jahren eine Schul-<lb/>
lehrer-Stelle in Ruppin an, wo er rohe Kinder zu<lb/>
braven Menſchen erzieht und bildet, die Liebe der Eltern<lb/>
hat, und von ſeinen Obern ſchon mehreremale oͤffent-<lb/>
lich in gedruckten Blaͤttern gelobt worden iſt. Auch<lb/>
ihm iſt eine baldige Belohnung fuͤr ſeine Amtstreue<lb/>
zu wuͤnſchen.</p><lb/><p>So das Schickſal des Sohnes; der Tochter ihr<lb/>
Loos fiel ſchlimmer. Sie kam nach fuͤnfjaͤhriger, ſitt-<lb/>
licher Aufſicht von der Realſchule wieder zur Mutter<lb/>
nach Hauſe. Die Mutter, welche niemals mit ihren<lb/>
Kindern ſich Rath gewußt hatte, glaubte nicht beſſer<lb/>
thun zu koͤnnen, als wenn ſie ihr Kind ihrem Bruder<lb/>
in Aufſicht uͤbergaͤbe. Er, welcher ganz und gar nicht<lb/>
auf Charakter- und Geiſtesſtimmung ſich verſtand, be-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[110/0142]
Sohn ward ihr zuruͤckgeſchickt, ohne daß ſich jemals
wieder eines Menſchen Guͤte um ihn bekuͤmmert haͤt-
te. Sie gab ihn darauf in eine Handlung zur Lehr-
probe, weil er aber ſeinen Sinn aufs Studieren ge-
ſetzt hatte, wovon er ſich fuͤr immer abgeriſſen ſah,
ſo hielt er nirgends aus, wurde bald hieher, bald dort-
hin gethan, und zuletzt ward wenig oder nichts aus
ihm, ob er gleich immer ordentlich und fleißig war,
und Faͤhigkeit und Geſchicklichkeit hatte. Auf die
Weiſe ſah er ſein Gluͤck fuͤr immer verſchnitten, und
nahm halb nothgedrungen vor zwoͤlf Jahren eine Schul-
lehrer-Stelle in Ruppin an, wo er rohe Kinder zu
braven Menſchen erzieht und bildet, die Liebe der Eltern
hat, und von ſeinen Obern ſchon mehreremale oͤffent-
lich in gedruckten Blaͤttern gelobt worden iſt. Auch
ihm iſt eine baldige Belohnung fuͤr ſeine Amtstreue
zu wuͤnſchen.
So das Schickſal des Sohnes; der Tochter ihr
Loos fiel ſchlimmer. Sie kam nach fuͤnfjaͤhriger, ſitt-
licher Aufſicht von der Realſchule wieder zur Mutter
nach Hauſe. Die Mutter, welche niemals mit ihren
Kindern ſich Rath gewußt hatte, glaubte nicht beſſer
thun zu koͤnnen, als wenn ſie ihr Kind ihrem Bruder
in Aufſicht uͤbergaͤbe. Er, welcher ganz und gar nicht
auf Charakter- und Geiſtesſtimmung ſich verſtand, be-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/142>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.