worden. Ihr Sohn genoß unter guter Aufsicht einen Unterricht von zwei Jahren, und nach Verlauf der- selben ward ihr von der nehmlichen fremden Hand die schriftliche Frage zugeschickt: wozu sie nun ihren Sohn zu bestimmen gedächte? Sie hatte darüber noch niemals nachgedacht, und verwieß die Antwort an den jungen Menschen selbst. Er bezeigte Lust zum Stu- dieren, und wollte sich der Theologie widmen; man prüfte ihn darüber, und befand, daß er dazu am fä- higsten wäre. Ihr ward also abermals von jener fremden Hand angekündigt: Welchen Entschluß ihr Sohn genommen hätte, und nun wollte man ihn aufs Gymnasium thun, und alsdann auf freie Kosten nach Halle auf die Universität schicken. Sie, welche sonst jedes angebotne Gute, auch das kleinste mit unend- licher Erkenntlichkeit annahm, widersprach doch hier, wo es auf das lebenslange Glück ihres Sohnes an- kam. Sie gab zur Ursach an, daß er ihr ein Billet geschrieben hätte, in welchem weder Styl noch Ge- danke wäre; und sie könnte sich nicht entschließen, ei- nen Menschen von sechzehn Jahren, der noch kein Billet an seine Mutter schreiben könnte, auf fremde Kosten studieren zu lassen. Es ist aber wahrschein- lich zu vermuthen, daß sie hierbei nicht ihrem eige- nen Rath gefolget hat. Der Wohlthäter schien die Weigerung übel genommen zu haben, und ihr
worden. Ihr Sohn genoß unter guter Aufſicht einen Unterricht von zwei Jahren, und nach Verlauf der- ſelben ward ihr von der nehmlichen fremden Hand die ſchriftliche Frage zugeſchickt: wozu ſie nun ihren Sohn zu beſtimmen gedaͤchte? Sie hatte daruͤber noch niemals nachgedacht, und verwieß die Antwort an den jungen Menſchen ſelbſt. Er bezeigte Luſt zum Stu- dieren, und wollte ſich der Theologie widmen; man pruͤfte ihn daruͤber, und befand, daß er dazu am faͤ- higſten waͤre. Ihr ward alſo abermals von jener fremden Hand angekuͤndigt: Welchen Entſchluß ihr Sohn genommen haͤtte, und nun wollte man ihn aufs Gymnaſium thun, und alsdann auf freie Koſten nach Halle auf die Univerſitaͤt ſchicken. Sie, welche ſonſt jedes angebotne Gute, auch das kleinſte mit unend- licher Erkenntlichkeit annahm, widerſprach doch hier, wo es auf das lebenslange Gluͤck ihres Sohnes an- kam. Sie gab zur Urſach an, daß er ihr ein Billet geſchrieben haͤtte, in welchem weder Styl noch Ge- danke waͤre; und ſie koͤnnte ſich nicht entſchließen, ei- nen Menſchen von ſechzehn Jahren, der noch kein Billet an ſeine Mutter ſchreiben koͤnnte, auf fremde Koſten ſtudieren zu laſſen. Es iſt aber wahrſchein- lich zu vermuthen, daß ſie hierbei nicht ihrem eige- nen Rath gefolget hat. Der Wohlthaͤter ſchien die Weigerung uͤbel genommen zu haben, und ihr
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worden. Ihr Sohn genoß unter guter Aufſicht einen
Unterricht von zwei Jahren, und nach Verlauf der-
ſelben ward ihr von der nehmlichen fremden Hand
die ſchriftliche Frage zugeſchickt: wozu ſie nun ihren
Sohn zu beſtimmen gedaͤchte? Sie hatte daruͤber noch
niemals nachgedacht, und verwieß die Antwort an den
jungen Menſchen ſelbſt. Er bezeigte Luſt zum Stu-
dieren, und wollte ſich der Theologie widmen; man
pruͤfte ihn daruͤber, und befand, daß er dazu am faͤ-
higſten waͤre. Ihr ward alſo abermals von jener
fremden Hand angekuͤndigt: Welchen Entſchluß ihr
Sohn genommen haͤtte, und nun wollte man ihn aufs
Gymnaſium thun, und alsdann auf freie Koſten nach
Halle auf die Univerſitaͤt ſchicken. Sie, welche ſonſt
jedes angebotne Gute, auch das kleinſte mit unend-
licher Erkenntlichkeit annahm, widerſprach doch hier,
wo es auf das lebenslange Gluͤck ihres Sohnes an-
kam. Sie gab zur Urſach an, daß er ihr ein Billet
geſchrieben haͤtte, in welchem weder Styl noch Ge-
danke waͤre; und ſie koͤnnte ſich nicht entſchließen, ei-
nen Menſchen von ſechzehn Jahren, der noch kein
Billet an ſeine Mutter ſchreiben koͤnnte, auf fremde
Koſten ſtudieren zu laſſen. Es iſt aber wahrſchein-
lich zu vermuthen, daß ſie hierbei nicht ihrem eige-
nen Rath gefolget hat. Der Wohlthaͤter ſchien
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/141>, abgerufen am 24.11.2024.
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