Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Th. Critik der teleologischen Urtheilskraft.
dem Urwesen zum Behuf der gesammten Naturerkenntnis,
oder einen practischen für die Religion verlangen.

Dieses aus der physischen Teleologie genommene Argu-
ment ist verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur
Ueberzeugung auf den gemeinen Verstand, als auf den sub-
tilsten Denker und ein Reimarus in seinem noch nicht über-
troffenen Werke, worinn er diesen Beweisgrund mit der ihm
eigenen Gründlichkeit und Klarheit weitläuftig ausführt, hat
sich dadurch ein unsterbliches Verdienst erworben -- Allein
wodurch gewinnt dieser Beweis so gewaltigen Einfluß aufs
Gemüth, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Ver-
nunft (denn die Rührung und Erhebung desselben durch die
Wunder der Natur könnte man zur Ueberredung rechnen)
auf eine ruhige, sich gänzlich dahin gebende Beystimmung?
Es sind nicht die physische Zwecke, die alle auf einen uner-
gründlichen Verstand in der Weltursache hindeuten; denn
diese sind dazu unzureichend, weil sie das Bedürfnis der fra-
genden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu sind (frägt
diese) alle jene künstliche Naturdinge, wozu der Mensch selbst
bey dem wir, als dem letzten für uns denkbaren Zwecke der
Natur stehen bleiben müssen, wozu ist diese gesammte Natur
da und was ist der Endzweck so großer und mannigfaltiger
Kunst? Zum Genießen, oder zum Anschauen, Betrachten
und Bewundern (welches, wenn es dabey bleibt, auch nichts
weiter als Genuß von besonderer Art ist) als dem letzten End-
zweck, warum die Welt und der Mensch selbst da ist, geschaf-
fen zu seyn, kann die Vernunft nicht befriedigen; denn diese
setzt einen persöhnlichen Werth, den der Mensch sich
allein geben kann, als Bedingung unter der allein er
und sein Daseyn Endzweck seyn kann, voraus; in Erman-
gelung dessen (der allein eines bestimmten Begrifs fähig ist)
die Zwecke der Natur seiner Nachfrage nicht Genüge thun,

Kants Crit. d. Urtheilskr. G g

II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
dem Urweſen zum Behuf der geſammten Naturerkenntnis,
oder einen practiſchen fuͤr die Religion verlangen.

Dieſes aus der phyſiſchen Teleologie genommene Argu-
ment iſt verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur
Ueberzeugung auf den gemeinen Verſtand, als auf den ſub-
tilſten Denker und ein Reimarus in ſeinem noch nicht uͤber-
troffenen Werke, worinn er dieſen Beweisgrund mit der ihm
eigenen Gruͤndlichkeit und Klarheit weitlaͤuftig ausfuͤhrt, hat
ſich dadurch ein unſterbliches Verdienſt erworben — Allein
wodurch gewinnt dieſer Beweis ſo gewaltigen Einfluß aufs
Gemuͤth, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Ver-
nunft (denn die Ruͤhrung und Erhebung deſſelben durch die
Wunder der Natur koͤnnte man zur Ueberredung rechnen)
auf eine ruhige, ſich gaͤnzlich dahin gebende Beyſtimmung?
Es ſind nicht die phyſiſche Zwecke, die alle auf einen uner-
gruͤndlichen Verſtand in der Welturſache hindeuten; denn
dieſe ſind dazu unzureichend, weil ſie das Beduͤrfnis der fra-
genden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu ſind (fraͤgt
dieſe) alle jene kuͤnſtliche Naturdinge, wozu der Menſch ſelbſt
bey dem wir, als dem letzten fuͤr uns denkbaren Zwecke der
Natur ſtehen bleiben muͤſſen, wozu iſt dieſe geſammte Natur
da und was iſt der Endzweck ſo großer und mannigfaltiger
Kunſt? Zum Genießen, oder zum Anſchauen, Betrachten
und Bewundern (welches, wenn es dabey bleibt, auch nichts
weiter als Genuß von beſonderer Art iſt) als dem letzten End-
zweck, warum die Welt und der Menſch ſelbſt da iſt, geſchaf-
fen zu ſeyn, kann die Vernunft nicht befriedigen; denn dieſe
ſetzt einen perſoͤhnlichen Werth, den der Menſch ſich
allein geben kann, als Bedingung unter der allein er
und ſein Daſeyn Endzweck ſeyn kann, voraus; in Erman-
gelung deſſen (der allein eines beſtimmten Begrifs faͤhig iſt)
die Zwecke der Natur ſeiner Nachfrage nicht Genuͤge thun,

Kants Crit. d. Urtheilskr. G g
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0529" n="465"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Th. Critik der teleologi&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
dem Urwe&#x017F;en zum Behuf der ge&#x017F;ammten Naturerkenntnis,<lb/>
oder einen practi&#x017F;chen fu&#x0364;r die Religion verlangen.</p><lb/>
                <p>Die&#x017F;es aus der phy&#x017F;i&#x017F;chen Teleologie genommene Argu-<lb/>
ment i&#x017F;t verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur<lb/>
Ueberzeugung auf den gemeinen Ver&#x017F;tand, als auf den &#x017F;ub-<lb/>
til&#x017F;ten Denker und ein <hi rendition="#fr">Reimarus</hi> in &#x017F;einem noch nicht u&#x0364;ber-<lb/>
troffenen Werke, worinn er die&#x017F;en Beweisgrund mit der ihm<lb/>
eigenen Gru&#x0364;ndlichkeit und Klarheit weitla&#x0364;uftig ausfu&#x0364;hrt, hat<lb/>
&#x017F;ich dadurch ein un&#x017F;terbliches Verdien&#x017F;t erworben &#x2014; Allein<lb/>
wodurch gewinnt die&#x017F;er Beweis &#x017F;o gewaltigen Einfluß aufs<lb/>
Gemu&#x0364;th, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Ver-<lb/>
nunft (denn die Ru&#x0364;hrung und Erhebung de&#x017F;&#x017F;elben durch die<lb/>
Wunder der Natur ko&#x0364;nnte man zur Ueberredung rechnen)<lb/>
auf eine ruhige, &#x017F;ich ga&#x0364;nzlich dahin gebende Bey&#x017F;timmung?<lb/>
Es &#x017F;ind nicht die phy&#x017F;i&#x017F;che Zwecke, die alle auf einen uner-<lb/>
gru&#x0364;ndlichen Ver&#x017F;tand in der Weltur&#x017F;ache hindeuten; denn<lb/>
die&#x017F;e &#x017F;ind dazu unzureichend, weil &#x017F;ie das Bedu&#x0364;rfnis der fra-<lb/>
genden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu &#x017F;ind (fra&#x0364;gt<lb/>
die&#x017F;e) alle jene ku&#x0364;n&#x017F;tliche Naturdinge, wozu der Men&#x017F;ch &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
bey dem wir, als dem letzten fu&#x0364;r uns denkbaren Zwecke der<lb/>
Natur &#x017F;tehen bleiben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wozu i&#x017F;t die&#x017F;e ge&#x017F;ammte Natur<lb/>
da und was i&#x017F;t der Endzweck &#x017F;o großer und mannigfaltiger<lb/>
Kun&#x017F;t? Zum Genießen, oder zum An&#x017F;chauen, Betrachten<lb/>
und Bewundern (welches, wenn es dabey bleibt, auch nichts<lb/>
weiter als Genuß von be&#x017F;onderer Art i&#x017F;t) als dem letzten End-<lb/>
zweck, warum die Welt und der Men&#x017F;ch &#x017F;elb&#x017F;t da i&#x017F;t, ge&#x017F;chaf-<lb/>
fen zu &#x017F;eyn, kann die Vernunft nicht befriedigen; denn die&#x017F;e<lb/>
&#x017F;etzt einen per&#x017F;o&#x0364;hnlichen Werth, den der Men&#x017F;ch &#x017F;ich<lb/>
allein geben kann, als Bedingung unter der allein er<lb/>
und &#x017F;ein Da&#x017F;eyn Endzweck &#x017F;eyn kann, voraus; in Erman-<lb/>
gelung de&#x017F;&#x017F;en (der allein eines be&#x017F;timmten Begrifs fa&#x0364;hig i&#x017F;t)<lb/>
die Zwecke der Natur &#x017F;einer Nachfrage nicht Genu&#x0364;ge thun,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Kants Crit. d. Urtheilskr</hi>. G g</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[465/0529] II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft. dem Urweſen zum Behuf der geſammten Naturerkenntnis, oder einen practiſchen fuͤr die Religion verlangen. Dieſes aus der phyſiſchen Teleologie genommene Argu- ment iſt verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur Ueberzeugung auf den gemeinen Verſtand, als auf den ſub- tilſten Denker und ein Reimarus in ſeinem noch nicht uͤber- troffenen Werke, worinn er dieſen Beweisgrund mit der ihm eigenen Gruͤndlichkeit und Klarheit weitlaͤuftig ausfuͤhrt, hat ſich dadurch ein unſterbliches Verdienſt erworben — Allein wodurch gewinnt dieſer Beweis ſo gewaltigen Einfluß aufs Gemuͤth, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Ver- nunft (denn die Ruͤhrung und Erhebung deſſelben durch die Wunder der Natur koͤnnte man zur Ueberredung rechnen) auf eine ruhige, ſich gaͤnzlich dahin gebende Beyſtimmung? Es ſind nicht die phyſiſche Zwecke, die alle auf einen uner- gruͤndlichen Verſtand in der Welturſache hindeuten; denn dieſe ſind dazu unzureichend, weil ſie das Beduͤrfnis der fra- genden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu ſind (fraͤgt dieſe) alle jene kuͤnſtliche Naturdinge, wozu der Menſch ſelbſt bey dem wir, als dem letzten fuͤr uns denkbaren Zwecke der Natur ſtehen bleiben muͤſſen, wozu iſt dieſe geſammte Natur da und was iſt der Endzweck ſo großer und mannigfaltiger Kunſt? Zum Genießen, oder zum Anſchauen, Betrachten und Bewundern (welches, wenn es dabey bleibt, auch nichts weiter als Genuß von beſonderer Art iſt) als dem letzten End- zweck, warum die Welt und der Menſch ſelbſt da iſt, geſchaf- fen zu ſeyn, kann die Vernunft nicht befriedigen; denn dieſe ſetzt einen perſoͤhnlichen Werth, den der Menſch ſich allein geben kann, als Bedingung unter der allein er und ſein Daſeyn Endzweck ſeyn kann, voraus; in Erman- gelung deſſen (der allein eines beſtimmten Begrifs faͤhig iſt) die Zwecke der Natur ſeiner Nachfrage nicht Genuͤge thun, Kants Crit. d. Urtheilskr. G g

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/529
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/529>, abgerufen am 05.12.2024.