Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Th. Critik der teleologischen Urtheilskraft.
Vorschrift des moralischen Gesetzes gemäs, selbst zu
vollführen haben, zum Leitfaden des Vernunfturtheils
über unsere Bestimmung (welches also nur in practi-
scher Beziehung als nothwendig, oder annehmungs-
würdig, betrachtet wird) unser theoretisches Erkennt-
nis-Vermögen befragen, giebt die Seelenlehre in
dieser Absicht, so wie oben die Theologie, nichts mehr
als einen negativen Begrif von unserm denkenden
Wesen; daß nämlich keines seiner Handlungen und Er-
scheinungen des innern Sinnes materialistisch erklärt
werden könne: daß also von ihrer abgesonderten Ra-
tur und der Dauer oder Nichtdauer ihrer Persönlich-
keit nach dem Tode uns schlechterdings kein erwei-
terndes bestimmendes Urtheil aus speculativen Grün-
den durch unser gesammtes theoretisches Erkenntnisver-
mögen möglich sey. Da also alles hier der teleologischen
Beurtheilung unseres Daseyns in practischer nothwen-
diger Rücksicht und der Annehmung unserer Fortdauer,
als der zu den uns von der Vernunft schlechterdings auf-
gegebenen Endzweck erforderlicher Bedingung, überlas-
sen bleibt, so zeigt sich hier zugleich der Nutzen (der zwar
beym ersten Anblick Verlust zu seyn scheint): daß, so wie
die Theologie für uns nie Theosophie werden kann, die
rationale Psychologie niemals Pnevmatologie [al]s
erweiternde Wissenschaften werden könne, so wie sie an-
derseits auch gesichert ist, in keinen Materialis[m]
zu verfallen; sondern daß sie vielmehr blos Anthropolo-

E e 3

II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
Vorſchrift des moraliſchen Geſetzes gemaͤs, ſelbſt zu
vollfuͤhren haben, zum Leitfaden des Vernunfturtheils
uͤber unſere Beſtimmung (welches alſo nur in practi-
ſcher Beziehung als nothwendig, oder annehmungs-
wuͤrdig, betrachtet wird) unſer theoretiſches Erkennt-
nis-Vermoͤgen befragen, giebt die Seelenlehre in
dieſer Abſicht, ſo wie oben die Theologie, nichts mehr
als einen negativen Begrif von unſerm denkenden
Weſen; daß naͤmlich keines ſeiner Handlungen und Er-
ſcheinungen des innern Sinnes materialiſtiſch erklaͤrt
werden koͤnne: daß alſo von ihrer abgeſonderten Ra-
tur und der Dauer oder Nichtdauer ihrer Perſoͤnlich-
keit nach dem Tode uns ſchlechterdings kein erwei-
terndes beſtimmendes Urtheil aus ſpeculativen Gruͤn-
den durch unſer geſammtes theoretiſches Erkenntnisver-
moͤgen moͤglich ſey. Da alſo alles hier der teleologiſchen
Beurtheilung unſeres Daſeyns in practiſcher nothwen-
diger Ruͤckſicht und der Annehmung unſerer Fortdauer,
als der zu den uns von der Vernunft ſchlechterdings auf-
gegebenen Endzweck erforderlicher Bedingung, uͤberlaſ-
ſen bleibt, ſo zeigt ſich hier zugleich der Nutzen (der zwar
beym erſten Anblick Verluſt zu ſeyn ſcheint): daß, ſo wie
die Theologie fuͤr uns nie Theoſophie werden kann, die
rationale Pſychologie niemals Pnevmatologie [al]s
erweiternde Wiſſenſchaften werden koͤnne, ſo wie ſie an-
derſeits auch geſichert iſt, in keinen Materialis[m]
zu verfallen; ſondern daß ſie vielmehr blos Anthropolo-

E e 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0501" n="437"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Th. Critik der teleologi&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
Vor&#x017F;chrift des morali&#x017F;chen Ge&#x017F;etzes gema&#x0364;s, &#x017F;elb&#x017F;t zu<lb/>
vollfu&#x0364;hren haben, zum Leitfaden des Vernunfturtheils<lb/>
u&#x0364;ber un&#x017F;ere Be&#x017F;timmung (welches al&#x017F;o nur in practi-<lb/>
&#x017F;cher Beziehung als nothwendig, oder annehmungs-<lb/>
wu&#x0364;rdig, betrachtet wird) un&#x017F;er theoreti&#x017F;ches Erkennt-<lb/>
nis-Vermo&#x0364;gen befragen, giebt die Seelenlehre in<lb/>
die&#x017F;er Ab&#x017F;icht, &#x017F;o wie oben die Theologie, nichts mehr<lb/>
als einen negativen Begrif von un&#x017F;erm denkenden<lb/>
We&#x017F;en; daß na&#x0364;mlich keines &#x017F;einer Handlungen und Er-<lb/>
&#x017F;cheinungen des innern Sinnes materiali&#x017F;ti&#x017F;ch erkla&#x0364;rt<lb/>
werden ko&#x0364;nne: daß al&#x017F;o von ihrer abge&#x017F;onderten Ra-<lb/>
tur und der Dauer oder Nichtdauer ihrer Per&#x017F;o&#x0364;nlich-<lb/>
keit nach dem Tode uns &#x017F;chlechterdings kein erwei-<lb/>
terndes be&#x017F;timmendes Urtheil aus &#x017F;peculativen Gru&#x0364;n-<lb/>
den durch un&#x017F;er ge&#x017F;ammtes theoreti&#x017F;ches Erkenntnisver-<lb/>
mo&#x0364;gen mo&#x0364;glich &#x017F;ey. Da al&#x017F;o alles hier der teleologi&#x017F;chen<lb/>
Beurtheilung un&#x017F;eres Da&#x017F;eyns in practi&#x017F;cher nothwen-<lb/>
diger Ru&#x0364;ck&#x017F;icht und der Annehmung un&#x017F;erer Fortdauer,<lb/>
als der zu den uns von der Vernunft &#x017F;chlechterdings auf-<lb/>
gegebenen Endzweck erforderlicher Bedingung, u&#x0364;berla&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en bleibt, &#x017F;o zeigt &#x017F;ich hier zugleich der Nutzen (der zwar<lb/>
beym er&#x017F;ten Anblick Verlu&#x017F;t zu &#x017F;eyn &#x017F;cheint): daß, &#x017F;o wie<lb/>
die Theologie fu&#x0364;r uns nie Theo&#x017F;ophie werden kann, die<lb/>
rationale P&#x017F;ychologie niemals <hi rendition="#fr">Pnevmatologie</hi> <supplied>al</supplied>s<lb/>
erweiternde Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften werden ko&#x0364;nne, &#x017F;o wie &#x017F;ie an-<lb/>
der&#x017F;eits auch ge&#x017F;ichert i&#x017F;t, in keinen <hi rendition="#fr">Materialis<supplied>m</supplied></hi><lb/>
zu verfallen; &#x017F;ondern daß &#x017F;ie vielmehr blos Anthropolo-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 3</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[437/0501] II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft. Vorſchrift des moraliſchen Geſetzes gemaͤs, ſelbſt zu vollfuͤhren haben, zum Leitfaden des Vernunfturtheils uͤber unſere Beſtimmung (welches alſo nur in practi- ſcher Beziehung als nothwendig, oder annehmungs- wuͤrdig, betrachtet wird) unſer theoretiſches Erkennt- nis-Vermoͤgen befragen, giebt die Seelenlehre in dieſer Abſicht, ſo wie oben die Theologie, nichts mehr als einen negativen Begrif von unſerm denkenden Weſen; daß naͤmlich keines ſeiner Handlungen und Er- ſcheinungen des innern Sinnes materialiſtiſch erklaͤrt werden koͤnne: daß alſo von ihrer abgeſonderten Ra- tur und der Dauer oder Nichtdauer ihrer Perſoͤnlich- keit nach dem Tode uns ſchlechterdings kein erwei- terndes beſtimmendes Urtheil aus ſpeculativen Gruͤn- den durch unſer geſammtes theoretiſches Erkenntnisver- moͤgen moͤglich ſey. Da alſo alles hier der teleologiſchen Beurtheilung unſeres Daſeyns in practiſcher nothwen- diger Ruͤckſicht und der Annehmung unſerer Fortdauer, als der zu den uns von der Vernunft ſchlechterdings auf- gegebenen Endzweck erforderlicher Bedingung, uͤberlaſ- ſen bleibt, ſo zeigt ſich hier zugleich der Nutzen (der zwar beym erſten Anblick Verluſt zu ſeyn ſcheint): daß, ſo wie die Theologie fuͤr uns nie Theoſophie werden kann, die rationale Pſychologie niemals Pnevmatologie als erweiternde Wiſſenſchaften werden koͤnne, ſo wie ſie an- derſeits auch geſichert iſt, in keinen Materialism zu verfallen; ſondern daß ſie vielmehr blos Anthropolo- E e 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/501
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/501>, abgerufen am 05.12.2024.