Folgende wichtige Bemerkung bietet sich hier von selbst dar: daß es nämlich dreyerley Arten der Antinomie der reinen Vernunft gebe, die aber alle darin übereinkommen, daß sie dieselbe zwingen, von der sonst sehr natürlichen Vor- aussetzung, die Gegenstände der Sinne für die Dinge an sich selbst zu halten, abzugehen, sie vielmehr blos für Erscheinun- gen gelten zu lassen und ihnen ein intelligibles Substrat (et- was Uebersinnliches, wovon der Begrif nur Jdee ist und keine eigentliche Erkenntnis zuläßt) unterzulegen. Ohne eine solche Antinomie würde die Vernunft sich niemals zu Anneh- mung eines solchen das Feld ihrer Speculation so sehr veren- genden Princips und zu Aufopferungen, wobey so viele sonst sehr schimmernde Hofnungen gänzlich verschwinden müssen, entschließen können; denn selbst jetzt, da sich ihr zur Vergü- tung dieser Einbuße ein um desto größerer Gebrauch in pra- ctischer Rücksicht eröfnet, scheint sie sich nicht ohne Schmerz von jenen Hofnungen trennen und von der alten Anhänglich- keit losmachen zu können.
Daß es drey Arten der Antinomie giebt, hat seinen Grund darin, daß es drey Erkenntnisvermögen, Verstand, Urtheilskraft und Vernunft giebt, deren jedes (als oberes Er- kenntnisvermögen) seine Principien a priori haben muß, da denn die Vernunft, sofern sie über diese Principien selbst und ihren Gebrauch urtheilt, in Ansehung ihrer aller zu dem ge- gebenen bedingten unnachlaslich das Unbedingte fordert, wel- ches sich doch nie finden läßt, wenn man das Sinnliche, als zu den Dingen an sich selbst gehörig betrachtet und ihm nicht vielmehr, als bloßer Erscheinung, etwas Uebersinnliches (das intelligibele Substrat der Natur außer uns und in uns) als Sache an sich selbst unterlegt. Da giebt es dann 1) eine
Anti-
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Anmerkung II.
Folgende wichtige Bemerkung bietet ſich hier von ſelbſt dar: daß es naͤmlich dreyerley Arten der Antinomie der reinen Vernunft gebe, die aber alle darin uͤbereinkommen, daß ſie dieſelbe zwingen, von der ſonſt ſehr natuͤrlichen Vor- ausſetzung, die Gegenſtaͤnde der Sinne fuͤr die Dinge an ſich ſelbſt zu halten, abzugehen, ſie vielmehr blos fuͤr Erſcheinun- gen gelten zu laſſen und ihnen ein intelligibles Subſtrat (et- was Ueberſinnliches, wovon der Begrif nur Jdee iſt und keine eigentliche Erkenntnis zulaͤßt) unterzulegen. Ohne eine ſolche Antinomie wuͤrde die Vernunft ſich niemals zu Anneh- mung eines ſolchen das Feld ihrer Speculation ſo ſehr veren- genden Princips und zu Aufopferungen, wobey ſo viele ſonſt ſehr ſchimmernde Hofnungen gaͤnzlich verſchwinden muͤſſen, entſchließen koͤnnen; denn ſelbſt jetzt, da ſich ihr zur Verguͤ- tung dieſer Einbuße ein um deſto groͤßerer Gebrauch in pra- ctiſcher Ruͤckſicht eroͤfnet, ſcheint ſie ſich nicht ohne Schmerz von jenen Hofnungen trennen und von der alten Anhaͤnglich- keit losmachen zu koͤnnen.
Daß es drey Arten der Antinomie giebt, hat ſeinen Grund darin, daß es drey Erkenntnisvermoͤgen, Verſtand, Urtheilskraft und Vernunft giebt, deren jedes (als oberes Er- kenntnisvermoͤgen) ſeine Principien a priori haben muß, da denn die Vernunft, ſofern ſie uͤber dieſe Principien ſelbſt und ihren Gebrauch urtheilt, in Anſehung ihrer aller zu dem ge- gebenen bedingten unnachlaslich das Unbedingte fordert, wel- ches ſich doch nie finden laͤßt, wenn man das Sinnliche, als zu den Dingen an ſich ſelbſt gehoͤrig betrachtet und ihm nicht vielmehr, als bloßer Erſcheinung, etwas Ueberſinnliches (das intelligibele Subſtrat der Natur außer uns und in uns) als Sache an ſich ſelbſt unterlegt. Da giebt es dann 1) eine
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Anmerkung II.
Folgende wichtige Bemerkung bietet ſich hier von ſelbſt
dar: daß es naͤmlich dreyerley Arten der Antinomie der
reinen Vernunft gebe, die aber alle darin uͤbereinkommen,
daß ſie dieſelbe zwingen, von der ſonſt ſehr natuͤrlichen Vor-
ausſetzung, die Gegenſtaͤnde der Sinne fuͤr die Dinge an ſich
ſelbſt zu halten, abzugehen, ſie vielmehr blos fuͤr Erſcheinun-
gen gelten zu laſſen und ihnen ein intelligibles Subſtrat (et-
was Ueberſinnliches, wovon der Begrif nur Jdee iſt und
keine eigentliche Erkenntnis zulaͤßt) unterzulegen. Ohne eine
ſolche Antinomie wuͤrde die Vernunft ſich niemals zu Anneh-
mung eines ſolchen das Feld ihrer Speculation ſo ſehr veren-
genden Princips und zu Aufopferungen, wobey ſo viele ſonſt
ſehr ſchimmernde Hofnungen gaͤnzlich verſchwinden muͤſſen,
entſchließen koͤnnen; denn ſelbſt jetzt, da ſich ihr zur Verguͤ-
tung dieſer Einbuße ein um deſto groͤßerer Gebrauch in pra-
ctiſcher Ruͤckſicht eroͤfnet, ſcheint ſie ſich nicht ohne Schmerz
von jenen Hofnungen trennen und von der alten Anhaͤnglich-
keit losmachen zu koͤnnen.
Daß es drey Arten der Antinomie giebt, hat ſeinen
Grund darin, daß es drey Erkenntnisvermoͤgen, Verſtand,
Urtheilskraft und Vernunft giebt, deren jedes (als oberes Er-
kenntnisvermoͤgen) ſeine Principien a priori haben muß, da
denn die Vernunft, ſofern ſie uͤber dieſe Principien ſelbſt und
ihren Gebrauch urtheilt, in Anſehung ihrer aller zu dem ge-
gebenen bedingten unnachlaslich das Unbedingte fordert, wel-
ches ſich doch nie finden laͤßt, wenn man das Sinnliche, als
zu den Dingen an ſich ſelbſt gehoͤrig betrachtet und ihm nicht
vielmehr, als bloßer Erſcheinung, etwas Ueberſinnliches
(das intelligibele Subſtrat der Natur außer uns und in uns)
als Sache an ſich ſelbſt unterlegt. Da giebt es dann 1) eine
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/304>, abgerufen am 20.11.2024.
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