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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
wunderung anzeigte, auf die Frage des Engländers: was ist
denn hier sich so sehr zu verwundern, antwortete: Jch wun-
dere mich auch nicht darüber, daß es herausgeht, sondern wie
ihrs habt herein kriegen können: so lachen wir und es macht
uns eine herzliche Lust, nicht, weil wir uns etwa klüger fin-
den als diesen Unwissenden, oder sonst über etwas, was uns
der Verstand hierin Wohlgefälliges bemerken ließe, sondern
unsre Erwartung war gespannt und verschwindet plötzlich in
nichts. Oder wenn der Erbe eines reichen Verwandten die-
sem sein Leichenbegängnis recht feyerlich veranstalten will
und klagt, daß es ihm hiemit nicht recht gelingen wolle;
denn sagt er: je mehr ich meinen Trauerleuten Geld gebe
betrübt auszusehen, desto lustiger sehen sie aus: so lachen
wir laut und der Grund liegt darinn daß eine Erwartung
sich plötzlich in Nichts verwandelt. Man muß wohl bemer-
ken: daß sie sich nicht in das Gegentheil eines erwarteten
Gegenstandes, denn das ist immer Etwas und kann öfters
betrüben, sondern in Nichts verwandeln müsse. Denn wenn
jemand uns mit der Erzählung einer Geschichte große Erwar-
tung erregt und wir beym Schlusse die Unwahrheit derselben
sofort einsehen, so macht es uns Misfallen, wie z. B. die
von Leuten, die für großen Gram in einer Nacht graue
Haare bekommen haben sollen; dagegen, wenn auf eine der-
gleichen Erzählung zur Erwiederung ein anderer Schalk sehr
umständlich den Gram eines Kaufmanns erzählt, der aus
Jndien mit allem seinen Vermögen in Waaren, nach Euro-
pa zurückkehrend, in einem schweren Sturm alles über Bord
zu werfen genöthigt wurde und sich dermaaßen grämte, daß
ihm darüber in derselben Nacht die Perüque grau wurde, so
lachen wir und es macht uns Vergnügen, weil wir unsern
eignen Misgrif nach einem für uns übrigens gleichgültigen
Gegenstande, oder vielmehr unsere verfolgte Jdee, wie einen

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
wunderung anzeigte, auf die Frage des Englaͤnders: was iſt
denn hier ſich ſo ſehr zu verwundern, antwortete: Jch wun-
dere mich auch nicht daruͤber, daß es herausgeht, ſondern wie
ihrs habt herein kriegen koͤnnen: ſo lachen wir und es macht
uns eine herzliche Luſt, nicht, weil wir uns etwa kluͤger fin-
den als dieſen Unwiſſenden, oder ſonſt uͤber etwas, was uns
der Verſtand hierin Wohlgefaͤlliges bemerken ließe, ſondern
unſre Erwartung war geſpannt und verſchwindet ploͤtzlich in
nichts. Oder wenn der Erbe eines reichen Verwandten die-
ſem ſein Leichenbegaͤngnis recht feyerlich veranſtalten will
und klagt, daß es ihm hiemit nicht recht gelingen wolle;
denn ſagt er: je mehr ich meinen Trauerleuten Geld gebe
betruͤbt auszuſehen, deſto luſtiger ſehen ſie aus: ſo lachen
wir laut und der Grund liegt darinn daß eine Erwartung
ſich ploͤtzlich in Nichts verwandelt. Man muß wohl bemer-
ken: daß ſie ſich nicht in das Gegentheil eines erwarteten
Gegenſtandes, denn das iſt immer Etwas und kann oͤfters
betruͤben, ſondern in Nichts verwandeln muͤſſe. Denn wenn
jemand uns mit der Erzaͤhlung einer Geſchichte große Erwar-
tung erregt und wir beym Schluſſe die Unwahrheit derſelben
ſofort einſehen, ſo macht es uns Misfallen, wie z. B. die
von Leuten, die fuͤr großen Gram in einer Nacht graue
Haare bekommen haben ſollen; dagegen, wenn auf eine der-
gleichen Erzaͤhlung zur Erwiederung ein anderer Schalk ſehr
umſtaͤndlich den Gram eines Kaufmanns erzaͤhlt, der aus
Jndien mit allem ſeinen Vermoͤgen in Waaren, nach Euro-
pa zuruͤckkehrend, in einem ſchweren Sturm alles uͤber Bord
zu werfen genoͤthigt wurde und ſich dermaaßen graͤmte, daß
ihm daruͤber in derſelben Nacht die Peruͤque grau wurde, ſo
lachen wir und es macht uns Vergnuͤgen, weil wir unſern
eignen Misgrif nach einem fuͤr uns uͤbrigens gleichguͤltigen
Gegenſtande, oder vielmehr unſere verfolgte Jdee, wie einen

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[223/0287] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. wunderung anzeigte, auf die Frage des Englaͤnders: was iſt denn hier ſich ſo ſehr zu verwundern, antwortete: Jch wun- dere mich auch nicht daruͤber, daß es herausgeht, ſondern wie ihrs habt herein kriegen koͤnnen: ſo lachen wir und es macht uns eine herzliche Luſt, nicht, weil wir uns etwa kluͤger fin- den als dieſen Unwiſſenden, oder ſonſt uͤber etwas, was uns der Verſtand hierin Wohlgefaͤlliges bemerken ließe, ſondern unſre Erwartung war geſpannt und verſchwindet ploͤtzlich in nichts. Oder wenn der Erbe eines reichen Verwandten die- ſem ſein Leichenbegaͤngnis recht feyerlich veranſtalten will und klagt, daß es ihm hiemit nicht recht gelingen wolle; denn ſagt er: je mehr ich meinen Trauerleuten Geld gebe betruͤbt auszuſehen, deſto luſtiger ſehen ſie aus: ſo lachen wir laut und der Grund liegt darinn daß eine Erwartung ſich ploͤtzlich in Nichts verwandelt. Man muß wohl bemer- ken: daß ſie ſich nicht in das Gegentheil eines erwarteten Gegenſtandes, denn das iſt immer Etwas und kann oͤfters betruͤben, ſondern in Nichts verwandeln muͤſſe. Denn wenn jemand uns mit der Erzaͤhlung einer Geſchichte große Erwar- tung erregt und wir beym Schluſſe die Unwahrheit derſelben ſofort einſehen, ſo macht es uns Misfallen, wie z. B. die von Leuten, die fuͤr großen Gram in einer Nacht graue Haare bekommen haben ſollen; dagegen, wenn auf eine der- gleichen Erzaͤhlung zur Erwiederung ein anderer Schalk ſehr umſtaͤndlich den Gram eines Kaufmanns erzaͤhlt, der aus Jndien mit allem ſeinen Vermoͤgen in Waaren, nach Euro- pa zuruͤckkehrend, in einem ſchweren Sturm alles uͤber Bord zu werfen genoͤthigt wurde und ſich dermaaßen graͤmte, daß ihm daruͤber in derſelben Nacht die Peruͤque grau wurde, ſo lachen wir und es macht uns Vergnuͤgen, weil wir unſern eignen Misgrif nach einem fuͤr uns uͤbrigens gleichguͤltigen Gegenſtande, oder vielmehr unſere verfolgte Jdee, wie einen

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/287>, abgerufen am 28.11.2024.