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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
§. 50.
Von der Verbindung des Geschmacks mit
Genie in Producten der schönen Kunst.

Wenn die Frage ist, woran in Sachen der schönen
Kunst mehr gelegen sey, ob daran, daß sich an ihnen
Genie, oder ob daß sich Geschmack zeige, so ist das eben
so viel als wenn gefragt würde, ob es darin mehr auf
Einbildung, als auf Urtheilskraft ankomme. Da
nun eine Kunst in Ansehung des ersteren eher eine geist-
reiche,
in Ansehung des zweyten aber allein eine schöne
Kunst genannt zu werden verdient, so ist das letztere we-
nigstens als unumgängliche Bedingung (conditio sine
qua non
) das vornehmste, worauf man in Beurtheilung
der Kunst als schöne Kunst zu sehen hat. Reich und ori-
ginal an Jdeen zu seyn bedarf es nicht so nothwendig
zum Behuf der Schönheit, aber wohl der Angemessen-
heit jener Einbildungskraft in ihrer Freyheit zu der Ge-
setzmäßigkeit des Verstandes. Denn aller Reichthum
der ersteren bringt in ihrer gesetzlosen Freyheit nichts als
Unsinn hervor; die Urtheilskraft ist aber das Vermögen
sie dem Verstande anzupassen.

Der Geschmack ist, so wie die Urtheilskraft über-
haupt, die Disciplin (oder Zucht) des Genie's, beschneidet
diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschlif-
fen, zugleich aber giebt er diesem eine Leitung, worüber
und bis wie weit er sich verbreiten soll, um zweckmäßig

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
§. 50.
Von der Verbindung des Geſchmacks mit
Genie in Producten der ſchoͤnen Kunſt.

Wenn die Frage iſt, woran in Sachen der ſchoͤnen
Kunſt mehr gelegen ſey, ob daran, daß ſich an ihnen
Genie, oder ob daß ſich Geſchmack zeige, ſo iſt das eben
ſo viel als wenn gefragt wuͤrde, ob es darin mehr auf
Einbildung, als auf Urtheilskraft ankomme. Da
nun eine Kunſt in Anſehung des erſteren eher eine geiſt-
reiche,
in Anſehung des zweyten aber allein eine ſchoͤne
Kunſt genannt zu werden verdient, ſo iſt das letztere we-
nigſtens als unumgaͤngliche Bedingung (conditio ſine
qua non
) das vornehmſte, worauf man in Beurtheilung
der Kunſt als ſchoͤne Kunſt zu ſehen hat. Reich und ori-
ginal an Jdeen zu ſeyn bedarf es nicht ſo nothwendig
zum Behuf der Schoͤnheit, aber wohl der Angemeſſen-
heit jener Einbildungskraft in ihrer Freyheit zu der Ge-
ſetzmaͤßigkeit des Verſtandes. Denn aller Reichthum
der erſteren bringt in ihrer geſetzloſen Freyheit nichts als
Unſinn hervor; die Urtheilskraft iſt aber das Vermoͤgen
ſie dem Verſtande anzupaſſen.

Der Geſchmack iſt, ſo wie die Urtheilskraft uͤber-
haupt, die Disciplin (oder Zucht) des Genie’s, beſchneidet
dieſem ſehr die Fluͤgel und macht es geſittet oder geſchlif-
fen, zugleich aber giebt er dieſem eine Leitung, woruͤber
und bis wie weit er ſich verbreiten ſoll, um zweckmaͤßig

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[200/0264] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. §. 50. Von der Verbindung des Geſchmacks mit Genie in Producten der ſchoͤnen Kunſt. Wenn die Frage iſt, woran in Sachen der ſchoͤnen Kunſt mehr gelegen ſey, ob daran, daß ſich an ihnen Genie, oder ob daß ſich Geſchmack zeige, ſo iſt das eben ſo viel als wenn gefragt wuͤrde, ob es darin mehr auf Einbildung, als auf Urtheilskraft ankomme. Da nun eine Kunſt in Anſehung des erſteren eher eine geiſt- reiche, in Anſehung des zweyten aber allein eine ſchoͤne Kunſt genannt zu werden verdient, ſo iſt das letztere we- nigſtens als unumgaͤngliche Bedingung (conditio ſine qua non) das vornehmſte, worauf man in Beurtheilung der Kunſt als ſchoͤne Kunſt zu ſehen hat. Reich und ori- ginal an Jdeen zu ſeyn bedarf es nicht ſo nothwendig zum Behuf der Schoͤnheit, aber wohl der Angemeſſen- heit jener Einbildungskraft in ihrer Freyheit zu der Ge- ſetzmaͤßigkeit des Verſtandes. Denn aller Reichthum der erſteren bringt in ihrer geſetzloſen Freyheit nichts als Unſinn hervor; die Urtheilskraft iſt aber das Vermoͤgen ſie dem Verſtande anzupaſſen. Der Geſchmack iſt, ſo wie die Urtheilskraft uͤber- haupt, die Disciplin (oder Zucht) des Genie’s, beſchneidet dieſem ſehr die Fluͤgel und macht es geſittet oder geſchlif- fen, zugleich aber giebt er dieſem eine Leitung, woruͤber und bis wie weit er ſich verbreiten ſoll, um zweckmaͤßig

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/264>, abgerufen am 20.11.2024.