seyn, die gelernt werden können und genau befolgt wer- den müssen, die gefällige Form aber, die man ihm giebt, ist nur das Vehikel der Mittheilung und eine Manier gleichsam des Vortrages, in Ansehung dessen man noch in gewissem Maaße frey ist, wenn er doch übrigens an einem bestimmten Zweck gebunden ist. So verlangt man, daß das Tischgeräthe, oder auch eine moralische Abhand- lung, sogar eine Predigt diese Form der schönen Kunst, ohne doch gesucht zu scheinen, an sich haben müsse, man wird sie aber darum nicht Werke der schönen Kunst nen- nen. Zu der letzteren aber wird ein Gedicht, eine Mu- sik, eine Bildergallerie u. d. gl. gezählt und da kann man an einem seynsollenden Werke der schönen Kunst oftmals Genie ohne Geschmack, an einem andern Geschmack ohne Genie warnehmen.
§. 49. Von den Vermögen des Gemüths, die das Genie ausmachen.
Man sagt von gewissen Producten, von welchen man erwartet, daß sie sich, zum Theil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie sind ohne Geist; ob man gleich an ihnen, was den Geschmack betrift, nichts zu tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant seyn, aber es ist ohne Geist. Eine Geschichte ist genau und ordentlich, aber ohne Geist. Eine feyerliche Rede
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ſeyn, die gelernt werden koͤnnen und genau befolgt wer- den muͤſſen, die gefaͤllige Form aber, die man ihm giebt, iſt nur das Vehikel der Mittheilung und eine Manier gleichſam des Vortrages, in Anſehung deſſen man noch in gewiſſem Maaße frey iſt, wenn er doch uͤbrigens an einem beſtimmten Zweck gebunden iſt. So verlangt man, daß das Tiſchgeraͤthe, oder auch eine moraliſche Abhand- lung, ſogar eine Predigt dieſe Form der ſchoͤnen Kunſt, ohne doch geſucht zu ſcheinen, an ſich haben muͤſſe, man wird ſie aber darum nicht Werke der ſchoͤnen Kunſt nen- nen. Zu der letzteren aber wird ein Gedicht, eine Mu- ſik, eine Bildergallerie u. d. gl. gezaͤhlt und da kann man an einem ſeynſollenden Werke der ſchoͤnen Kunſt oftmals Genie ohne Geſchmack, an einem andern Geſchmack ohne Genie warnehmen.
§. 49. Von den Vermoͤgen des Gemuͤths, die das Genie ausmachen.
Man ſagt von gewiſſen Producten, von welchen man erwartet, daß ſie ſich, zum Theil wenigſtens, als ſchoͤne Kunſt zeigen ſollten: ſie ſind ohne Geiſt; ob man gleich an ihnen, was den Geſchmack betrift, nichts zu tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant ſeyn, aber es iſt ohne Geiſt. Eine Geſchichte iſt genau und ordentlich, aber ohne Geiſt. Eine feyerliche Rede
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0253"n="189"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/>ſeyn, die gelernt werden koͤnnen und genau befolgt wer-<lb/>
den muͤſſen, die gefaͤllige Form aber, die man ihm giebt,<lb/>
iſt nur das Vehikel der Mittheilung und eine Manier<lb/>
gleichſam des Vortrages, in Anſehung deſſen man noch<lb/>
in gewiſſem Maaße frey iſt, wenn er doch uͤbrigens an<lb/>
einem beſtimmten Zweck gebunden iſt. So verlangt man,<lb/>
daß das Tiſchgeraͤthe, oder auch eine moraliſche Abhand-<lb/>
lung, ſogar eine Predigt dieſe Form der ſchoͤnen Kunſt,<lb/>
ohne doch <hirendition="#fr">geſucht</hi> zu ſcheinen, an ſich haben muͤſſe, man<lb/>
wird ſie aber darum nicht Werke der ſchoͤnen Kunſt nen-<lb/>
nen. Zu der letzteren aber wird ein Gedicht, eine Mu-<lb/>ſik, eine Bildergallerie u. d. gl. gezaͤhlt und da kann man<lb/>
an einem ſeynſollenden Werke der ſchoͤnen Kunſt oftmals<lb/>
Genie ohne Geſchmack, an einem andern Geſchmack<lb/>
ohne Genie warnehmen.</p></div><lb/><divn="4"><head><hirendition="#b">§. 49.<lb/>
Von den Vermoͤgen des Gemuͤths, die das<lb/>
Genie ausmachen.</hi></head><lb/><p>Man ſagt von gewiſſen Producten, von welchen<lb/>
man erwartet, daß ſie ſich, zum Theil wenigſtens, als<lb/>ſchoͤne Kunſt zeigen ſollten: ſie ſind ohne <hirendition="#fr">Geiſt;</hi> ob man<lb/>
gleich an ihnen, was den Geſchmack betrift, nichts zu<lb/>
tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant<lb/>ſeyn, aber es iſt ohne Geiſt. Eine Geſchichte iſt genau<lb/>
und ordentlich, aber ohne Geiſt. Eine feyerliche Rede<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[189/0253]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ſeyn, die gelernt werden koͤnnen und genau befolgt wer-
den muͤſſen, die gefaͤllige Form aber, die man ihm giebt,
iſt nur das Vehikel der Mittheilung und eine Manier
gleichſam des Vortrages, in Anſehung deſſen man noch
in gewiſſem Maaße frey iſt, wenn er doch uͤbrigens an
einem beſtimmten Zweck gebunden iſt. So verlangt man,
daß das Tiſchgeraͤthe, oder auch eine moraliſche Abhand-
lung, ſogar eine Predigt dieſe Form der ſchoͤnen Kunſt,
ohne doch geſucht zu ſcheinen, an ſich haben muͤſſe, man
wird ſie aber darum nicht Werke der ſchoͤnen Kunſt nen-
nen. Zu der letzteren aber wird ein Gedicht, eine Mu-
ſik, eine Bildergallerie u. d. gl. gezaͤhlt und da kann man
an einem ſeynſollenden Werke der ſchoͤnen Kunſt oftmals
Genie ohne Geſchmack, an einem andern Geſchmack
ohne Genie warnehmen.
§. 49.
Von den Vermoͤgen des Gemuͤths, die das
Genie ausmachen.
Man ſagt von gewiſſen Producten, von welchen
man erwartet, daß ſie ſich, zum Theil wenigſtens, als
ſchoͤne Kunſt zeigen ſollten: ſie ſind ohne Geiſt; ob man
gleich an ihnen, was den Geſchmack betrift, nichts zu
tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant
ſeyn, aber es iſt ohne Geiſt. Eine Geſchichte iſt genau
und ordentlich, aber ohne Geiſt. Eine feyerliche Rede
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/253>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.