Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite
I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.

Man sieht hieraus, daß Genie 1) Ein Talent sey,
dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt,
hervorzubringen, nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem,
was nach irgend einer Regel gelernt werden kann, folg-
lich daß Originalität seine erste Eigenschaft seyn müsse.
2) Daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine
Producte zugleich, Muster d. i. exemplarisch seyn müssen,
mithin selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, an-
deren doch dazu, d. i. zum Richtmaaße oder Regel der
Beurtheilung, dienen müssen: 3) daß es, wie es sein
Product zu Stande bringe selbst nicht wissenschaftlich an-
zeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel ge-
be, und daher der Urheber eines Products, welches er
seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm
die Jdeen dazu herbey finden, auch es nicht in seiner Ge-
walt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig aus-
zudenken und anderen in Vorschriften mitzutheilen, die sie
in den Stand setzen, gleichmäßige Producte hervorzubrin-
gen (daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von
genius, dem eigenthümlichen einem Menschen bey der
Geburt mitgegebenen schützenden und leitenden Geist,
von dessen Eingebung jene originale Jdeen herrühreten,
abgeleitet ist). 4) Daß die Natur durch das Genie nicht
der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vor-
schreibe und dieses auch nur so fern sie schöne Kunst
seyn soll.

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.

Man ſieht hieraus, daß Genie 1) Ein Talent ſey,
dasjenige, wozu ſich keine beſtimmte Regel geben laͤßt,
hervorzubringen, nicht Geſchicklichkeitsanlage zu dem,
was nach irgend einer Regel gelernt werden kann, folg-
lich daß Originalitaͤt ſeine erſte Eigenſchaft ſeyn muͤſſe.
2) Daß, da es auch originalen Unſinn geben kann, ſeine
Producte zugleich, Muſter d. i. exemplariſch ſeyn muͤſſen,
mithin ſelbſt nicht durch Nachahmung entſprungen, an-
deren doch dazu, d. i. zum Richtmaaße oder Regel der
Beurtheilung, dienen muͤſſen: 3) daß es, wie es ſein
Product zu Stande bringe ſelbſt nicht wiſſenſchaftlich an-
zeigen koͤnne, ſondern daß es als Natur die Regel ge-
be, und daher der Urheber eines Products, welches er
ſeinem Genie verdankt, ſelbſt nicht weiß, wie ſich in ihm
die Jdeen dazu herbey finden, auch es nicht in ſeiner Ge-
walt hat, dergleichen nach Belieben oder planmaͤßig aus-
zudenken und anderen in Vorſchriften mitzutheilen, die ſie
in den Stand ſetzen, gleichmaͤßige Producte hervorzubrin-
gen (daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von
genius, dem eigenthuͤmlichen einem Menſchen bey der
Geburt mitgegebenen ſchuͤtzenden und leitenden Geiſt,
von deſſen Eingebung jene originale Jdeen herruͤhreten,
abgeleitet iſt). 4) Daß die Natur durch das Genie nicht
der Wiſſenſchaft, ſondern der Kunſt die Regel vor-
ſchreibe und dieſes auch nur ſo fern ſie ſchoͤne Kunſt
ſeyn ſoll.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0244" n="180"/>
              <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
              <p>Man &#x017F;ieht hieraus, daß Genie 1) Ein <hi rendition="#fr">Talent</hi> &#x017F;ey,<lb/>
dasjenige, wozu &#x017F;ich keine be&#x017F;timmte Regel geben la&#x0364;ßt,<lb/>
hervorzubringen, nicht Ge&#x017F;chicklichkeitsanlage zu dem,<lb/>
was nach irgend einer <hi rendition="#fr">Regel</hi> gelernt werden kann, folg-<lb/>
lich daß <hi rendition="#fr">Originalita&#x0364;t</hi> &#x017F;eine er&#x017F;te Eigen&#x017F;chaft &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
2) Daß, da es auch originalen Un&#x017F;inn geben kann, &#x017F;eine<lb/>
Producte zugleich, Mu&#x017F;ter d. i. <hi rendition="#fr">exemplari&#x017F;ch</hi> &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
mithin &#x017F;elb&#x017F;t nicht durch Nachahmung ent&#x017F;prungen, an-<lb/>
deren doch dazu, d. i. zum Richtmaaße oder Regel der<lb/>
Beurtheilung, dienen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en: 3) daß es, wie es &#x017F;ein<lb/>
Product zu Stande bringe &#x017F;elb&#x017F;t nicht wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich an-<lb/>
zeigen ko&#x0364;nne, &#x017F;ondern daß es als <hi rendition="#fr">Natur</hi> die Regel ge-<lb/>
be, und daher der Urheber eines Products, welches er<lb/>
&#x017F;einem Genie verdankt, &#x017F;elb&#x017F;t nicht weiß, wie &#x017F;ich in ihm<lb/>
die Jdeen dazu herbey finden, auch es nicht in &#x017F;einer Ge-<lb/>
walt hat, dergleichen nach Belieben oder planma&#x0364;ßig aus-<lb/>
zudenken und anderen in Vor&#x017F;chriften mitzutheilen, die &#x017F;ie<lb/>
in den Stand &#x017F;etzen, gleichma&#x0364;ßige Producte hervorzubrin-<lb/>
gen (daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von<lb/><hi rendition="#aq">genius,</hi> dem eigenthu&#x0364;mlichen einem Men&#x017F;chen bey der<lb/>
Geburt mitgegebenen &#x017F;chu&#x0364;tzenden und leitenden Gei&#x017F;t,<lb/>
von de&#x017F;&#x017F;en Eingebung jene originale Jdeen herru&#x0364;hreten,<lb/>
abgeleitet i&#x017F;t). 4) Daß die Natur durch das Genie nicht<lb/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, &#x017F;ondern der Kun&#x017F;t die Regel vor-<lb/>
&#x017F;chreibe und die&#x017F;es auch nur &#x017F;o fern &#x017F;ie &#x017F;cho&#x0364;ne Kun&#x017F;t<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;oll.</p>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0244] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Man ſieht hieraus, daß Genie 1) Ein Talent ſey, dasjenige, wozu ſich keine beſtimmte Regel geben laͤßt, hervorzubringen, nicht Geſchicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann, folg- lich daß Originalitaͤt ſeine erſte Eigenſchaft ſeyn muͤſſe. 2) Daß, da es auch originalen Unſinn geben kann, ſeine Producte zugleich, Muſter d. i. exemplariſch ſeyn muͤſſen, mithin ſelbſt nicht durch Nachahmung entſprungen, an- deren doch dazu, d. i. zum Richtmaaße oder Regel der Beurtheilung, dienen muͤſſen: 3) daß es, wie es ſein Product zu Stande bringe ſelbſt nicht wiſſenſchaftlich an- zeigen koͤnne, ſondern daß es als Natur die Regel ge- be, und daher der Urheber eines Products, welches er ſeinem Genie verdankt, ſelbſt nicht weiß, wie ſich in ihm die Jdeen dazu herbey finden, auch es nicht in ſeiner Ge- walt hat, dergleichen nach Belieben oder planmaͤßig aus- zudenken und anderen in Vorſchriften mitzutheilen, die ſie in den Stand ſetzen, gleichmaͤßige Producte hervorzubrin- gen (daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von genius, dem eigenthuͤmlichen einem Menſchen bey der Geburt mitgegebenen ſchuͤtzenden und leitenden Geiſt, von deſſen Eingebung jene originale Jdeen herruͤhreten, abgeleitet iſt). 4) Daß die Natur durch das Genie nicht der Wiſſenſchaft, ſondern der Kunſt die Regel vor- ſchreibe und dieſes auch nur ſo fern ſie ſchoͤne Kunſt ſeyn ſoll.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/244
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/244>, abgerufen am 05.12.2024.