Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft. nannten sieben freyen Künsten nicht einige, die denWissenschaften beyzuzählen, manche auch die mit Hand- werken zu vergleichen sind, aufgeführt worden seyn möch- ten, davon will ich hier nicht reden. Daß aber in allen freyen Künsten dennoch etwas zwangsmäßiges, oder, wie man es nennt, ein Mechanismus erforderlich sey, ohne welchen der Geist, der in der Kunst frey seyn muß und allein das Werk belebt; gar keinen Körper ha- ben und gänzlich verdunsten würde, ist nicht unrathsam zu erinnern (z. B. in der Dichtkunst, die Sprachrichtig- keit und Sprachreichthum, imgleichen die Prosodie und das Sylbenmaas) da manche neuere Erzieher eine freye Kunst am besten zu befördern glauben, wenn sie allen Zwang von ihr wegnehmen und sie aus Arbeit in bloßes Spiel verwandeln. §. 44. Von der schönen Kunst. Es giebt weder eine Wissenschaft des Schönen, son- I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. nannten ſieben freyen Kuͤnſten nicht einige, die denWiſſenſchaften beyzuzaͤhlen, manche auch die mit Hand- werken zu vergleichen ſind, aufgefuͤhrt worden ſeyn moͤch- ten, davon will ich hier nicht reden. Daß aber in allen freyen Kuͤnſten dennoch etwas zwangsmaͤßiges, oder, wie man es nennt, ein Mechanismus erforderlich ſey, ohne welchen der Geiſt, der in der Kunſt frey ſeyn muß und allein das Werk belebt; gar keinen Koͤrper ha- ben und gaͤnzlich verdunſten wuͤrde, iſt nicht unrathſam zu erinnern (z. B. in der Dichtkunſt, die Sprachrichtig- keit und Sprachreichthum, imgleichen die Proſodie und das Sylbenmaas) da manche neuere Erzieher eine freye Kunſt am beſten zu befoͤrdern glauben, wenn ſie allen Zwang von ihr wegnehmen und ſie aus Arbeit in bloßes Spiel verwandeln. §. 44. Von der ſchoͤnen Kunſt. Es giebt weder eine Wiſſenſchaft des Schoͤnen, ſon- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0238" n="174"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/> nannten ſieben freyen Kuͤnſten nicht einige, die den<lb/> Wiſſenſchaften beyzuzaͤhlen, manche auch die mit Hand-<lb/> werken zu vergleichen ſind, aufgefuͤhrt worden ſeyn moͤch-<lb/> ten, davon will ich hier nicht reden. Daß aber in allen<lb/> freyen Kuͤnſten dennoch etwas zwangsmaͤßiges, oder, wie<lb/> man es nennt, ein <hi rendition="#fr">Mechanismus</hi> erforderlich ſey,<lb/> ohne welchen der <hi rendition="#fr">Geiſt,</hi> der in der Kunſt <hi rendition="#fr">frey</hi> ſeyn<lb/> muß und allein das Werk belebt; gar keinen Koͤrper ha-<lb/> ben und gaͤnzlich verdunſten wuͤrde, iſt nicht unrathſam<lb/> zu erinnern (z. B. in der Dichtkunſt, die Sprachrichtig-<lb/> keit und Sprachreichthum, imgleichen die Proſodie und<lb/> das Sylbenmaas) da manche neuere Erzieher eine freye<lb/> Kunſt am beſten zu befoͤrdern glauben, wenn ſie allen<lb/> Zwang von ihr wegnehmen und ſie aus Arbeit in bloßes<lb/> Spiel verwandeln.</p> </div><lb/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#b">§. 44.<lb/> Von der ſchoͤnen Kunſt.</hi> </head><lb/> <p>Es giebt weder eine Wiſſenſchaft des Schoͤnen, ſon-<lb/> dern nur Critik, noch ſchoͤne Wiſſenſchaft, ſondern nur<lb/> ſchoͤne Kunſt. Denn was die erſtere betrift, ſo wuͤrde<lb/> in ihr wiſſenſchaftlich, d. i. durch Beweisgruͤnde ausge-<lb/> macht werden ſollen, ob etwas fuͤr ſchoͤn zu halten ſey<lb/> oder nicht; das Urtheil uͤber Schoͤnheit wuͤrde alſo, wenn<lb/> es zur Wiſſenſchaft gehoͤrte kein Geſchmacksurtheil ſeyn.<lb/> Was das zweyte anlangt, ſo iſt eine Wiſſenſchaft, die,<lb/> als ſolche, ſchoͤn ſeyn ſoll, ein Unding. Denn, wenn<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [174/0238]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
nannten ſieben freyen Kuͤnſten nicht einige, die den
Wiſſenſchaften beyzuzaͤhlen, manche auch die mit Hand-
werken zu vergleichen ſind, aufgefuͤhrt worden ſeyn moͤch-
ten, davon will ich hier nicht reden. Daß aber in allen
freyen Kuͤnſten dennoch etwas zwangsmaͤßiges, oder, wie
man es nennt, ein Mechanismus erforderlich ſey,
ohne welchen der Geiſt, der in der Kunſt frey ſeyn
muß und allein das Werk belebt; gar keinen Koͤrper ha-
ben und gaͤnzlich verdunſten wuͤrde, iſt nicht unrathſam
zu erinnern (z. B. in der Dichtkunſt, die Sprachrichtig-
keit und Sprachreichthum, imgleichen die Proſodie und
das Sylbenmaas) da manche neuere Erzieher eine freye
Kunſt am beſten zu befoͤrdern glauben, wenn ſie allen
Zwang von ihr wegnehmen und ſie aus Arbeit in bloßes
Spiel verwandeln.
§. 44.
Von der ſchoͤnen Kunſt.
Es giebt weder eine Wiſſenſchaft des Schoͤnen, ſon-
dern nur Critik, noch ſchoͤne Wiſſenſchaft, ſondern nur
ſchoͤne Kunſt. Denn was die erſtere betrift, ſo wuͤrde
in ihr wiſſenſchaftlich, d. i. durch Beweisgruͤnde ausge-
macht werden ſollen, ob etwas fuͤr ſchoͤn zu halten ſey
oder nicht; das Urtheil uͤber Schoͤnheit wuͤrde alſo, wenn
es zur Wiſſenſchaft gehoͤrte kein Geſchmacksurtheil ſeyn.
Was das zweyte anlangt, ſo iſt eine Wiſſenſchaft, die,
als ſolche, ſchoͤn ſeyn ſoll, ein Unding. Denn, wenn
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