Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
der Form nach, sondern auch das Daseyn desselben ge-
fällt, ohne daß ein Sinnenreiz daran Antheil hätte, oder
er auch irgend einen Zweck damit verbände.

Es ist aber hiebey merkwürdig, daß, wenn man
diesem Liebhaber des Schönen in geheim hintergangen
hätte und künstliche Blumen (die man den natürlichen
ganz ähnlich verfertigen kann) in die Erde gesteckt, oder
künstlich geschnitzte Vögel auf Zweige von Bäumen ge-
setzt hätte und er darauf den Betrug entdeckte, das un-
mittelbare Jnteresse was er vorher daran nahm, alsbald
verschwinden, vielleicht aber ein anderes, nämlich das
Jnteresse der Eitelkeit sein Zimmer für fremde Augen da-
mit auszuschmücken, an dessen Stelle sich einfinden würde.
Daß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat: die-
ser Gedanke muß die Anschauung und Reflexion beglei-
ten und auf diesem gründet sich allein das unmittelbare
Jnteresse, was man daran nimmt, sonst bleibt entweder
ein bloßes Geschmacksurtheil, ohne alles Jnteresse, oder
nur mit einem mittelbaren nämlich auf die Gesellschaft
bezogenen verbunden übrig, welches letztere keine sichere
Anzeige auf moralisch- gute Denkungsart abgiebt.

Dieser Vorzug der Naturschönheit vor der Kunst-
schönheit, wenn jene gleich durch diese der Form nach so-
gar übertroffen würde, dennoch an jener allein ein un-
mittelbares Jnteresse zu nehmen, stimmt mit der geläu-
terten und gründlichen Denkungsart aller Menschen
überein, die ihr sittliches Gefühl cultivirt haben. Wenn

L 3

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
der Form nach, ſondern auch das Daſeyn deſſelben ge-
faͤllt, ohne daß ein Sinnenreiz daran Antheil haͤtte, oder
er auch irgend einen Zweck damit verbaͤnde.

Es iſt aber hiebey merkwuͤrdig, daß, wenn man
dieſem Liebhaber des Schoͤnen in geheim hintergangen
haͤtte und kuͤnſtliche Blumen (die man den natuͤrlichen
ganz aͤhnlich verfertigen kann) in die Erde geſteckt, oder
kuͤnſtlich geſchnitzte Voͤgel auf Zweige von Baͤumen ge-
ſetzt haͤtte und er darauf den Betrug entdeckte, das un-
mittelbare Jntereſſe was er vorher daran nahm, alsbald
verſchwinden, vielleicht aber ein anderes, naͤmlich das
Jntereſſe der Eitelkeit ſein Zimmer fuͤr fremde Augen da-
mit auszuſchmuͤcken, an deſſen Stelle ſich einfinden wuͤrde.
Daß die Natur jene Schoͤnheit hervorgebracht hat: die-
ſer Gedanke muß die Anſchauung und Reflexion beglei-
ten und auf dieſem gruͤndet ſich allein das unmittelbare
Jntereſſe, was man daran nimmt, ſonſt bleibt entweder
ein bloßes Geſchmacksurtheil, ohne alles Jntereſſe, oder
nur mit einem mittelbaren naͤmlich auf die Geſellſchaft
bezogenen verbunden uͤbrig, welches letztere keine ſichere
Anzeige auf moraliſch- gute Denkungsart abgiebt.

Dieſer Vorzug der Naturſchoͤnheit vor der Kunſt-
ſchoͤnheit, wenn jene gleich durch dieſe der Form nach ſo-
gar uͤbertroffen wuͤrde, dennoch an jener allein ein un-
mittelbares Jntereſſe zu nehmen, ſtimmt mit der gelaͤu-
terten und gruͤndlichen Denkungsart aller Menſchen
uͤberein, die ihr ſittliches Gefuͤhl cultivirt haben. Wenn

L 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0229" n="165"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
der Form nach, &#x017F;ondern auch das Da&#x017F;eyn de&#x017F;&#x017F;elben ge-<lb/>
fa&#x0364;llt, ohne daß ein Sinnenreiz daran Antheil ha&#x0364;tte, oder<lb/>
er auch irgend einen Zweck damit verba&#x0364;nde.</p><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t aber hiebey merkwu&#x0364;rdig, daß, wenn man<lb/>
die&#x017F;em Liebhaber des Scho&#x0364;nen in geheim hintergangen<lb/>
ha&#x0364;tte und ku&#x0364;n&#x017F;tliche Blumen (die man den natu&#x0364;rlichen<lb/>
ganz a&#x0364;hnlich verfertigen kann) in die Erde ge&#x017F;teckt, oder<lb/>
ku&#x0364;n&#x017F;tlich ge&#x017F;chnitzte Vo&#x0364;gel auf Zweige von Ba&#x0364;umen ge-<lb/>
&#x017F;etzt ha&#x0364;tte und er darauf den Betrug entdeckte, das un-<lb/>
mittelbare Jntere&#x017F;&#x017F;e was er vorher daran nahm, alsbald<lb/>
ver&#x017F;chwinden, vielleicht aber ein anderes, na&#x0364;mlich das<lb/>
Jntere&#x017F;&#x017F;e der Eitelkeit &#x017F;ein Zimmer fu&#x0364;r fremde Augen da-<lb/>
mit auszu&#x017F;chmu&#x0364;cken, an de&#x017F;&#x017F;en Stelle &#x017F;ich einfinden wu&#x0364;rde.<lb/>
Daß die Natur jene Scho&#x0364;nheit hervorgebracht hat: die-<lb/>
&#x017F;er Gedanke muß die An&#x017F;chauung und Reflexion beglei-<lb/>
ten und auf die&#x017F;em gru&#x0364;ndet &#x017F;ich allein das unmittelbare<lb/>
Jntere&#x017F;&#x017F;e, was man daran nimmt, &#x017F;on&#x017F;t bleibt entweder<lb/>
ein bloßes Ge&#x017F;chmacksurtheil, ohne alles Jntere&#x017F;&#x017F;e, oder<lb/>
nur mit einem mittelbaren na&#x0364;mlich auf die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
bezogenen verbunden u&#x0364;brig, welches letztere keine &#x017F;ichere<lb/>
Anzeige auf morali&#x017F;ch- gute Denkungsart abgiebt.</p><lb/>
              <p>Die&#x017F;er Vorzug der Natur&#x017F;cho&#x0364;nheit vor der Kun&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nheit, wenn jene gleich durch die&#x017F;e der Form nach &#x017F;o-<lb/>
gar u&#x0364;bertroffen wu&#x0364;rde, dennoch an jener allein ein un-<lb/>
mittelbares Jntere&#x017F;&#x017F;e zu nehmen, &#x017F;timmt mit der gela&#x0364;u-<lb/>
terten und gru&#x0364;ndlichen Denkungsart aller Men&#x017F;chen<lb/>
u&#x0364;berein, die ihr &#x017F;ittliches Gefu&#x0364;hl cultivirt haben. Wenn<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 3</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0229] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. der Form nach, ſondern auch das Daſeyn deſſelben ge- faͤllt, ohne daß ein Sinnenreiz daran Antheil haͤtte, oder er auch irgend einen Zweck damit verbaͤnde. Es iſt aber hiebey merkwuͤrdig, daß, wenn man dieſem Liebhaber des Schoͤnen in geheim hintergangen haͤtte und kuͤnſtliche Blumen (die man den natuͤrlichen ganz aͤhnlich verfertigen kann) in die Erde geſteckt, oder kuͤnſtlich geſchnitzte Voͤgel auf Zweige von Baͤumen ge- ſetzt haͤtte und er darauf den Betrug entdeckte, das un- mittelbare Jntereſſe was er vorher daran nahm, alsbald verſchwinden, vielleicht aber ein anderes, naͤmlich das Jntereſſe der Eitelkeit ſein Zimmer fuͤr fremde Augen da- mit auszuſchmuͤcken, an deſſen Stelle ſich einfinden wuͤrde. Daß die Natur jene Schoͤnheit hervorgebracht hat: die- ſer Gedanke muß die Anſchauung und Reflexion beglei- ten und auf dieſem gruͤndet ſich allein das unmittelbare Jntereſſe, was man daran nimmt, ſonſt bleibt entweder ein bloßes Geſchmacksurtheil, ohne alles Jntereſſe, oder nur mit einem mittelbaren naͤmlich auf die Geſellſchaft bezogenen verbunden uͤbrig, welches letztere keine ſichere Anzeige auf moraliſch- gute Denkungsart abgiebt. Dieſer Vorzug der Naturſchoͤnheit vor der Kunſt- ſchoͤnheit, wenn jene gleich durch dieſe der Form nach ſo- gar uͤbertroffen wuͤrde, dennoch an jener allein ein un- mittelbares Jntereſſe zu nehmen, ſtimmt mit der gelaͤu- terten und gruͤndlichen Denkungsart aller Menſchen uͤberein, die ihr ſittliches Gefuͤhl cultivirt haben. Wenn L 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/229
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/229>, abgerufen am 05.12.2024.