blos in unserer Sprache, die in diesem wirklich eine Zweydeutigkeit enthält, sondern auch in mancher an- dern) so viel als das vulgare, was man allenthalben an- trift, versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist.
Unter dem sensus communis aber muß man die Jdee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beur- theilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes: andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Men- schenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Jl- lusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingun- gen, die leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einflus haben würden. Die- ses geschieht nun dadurch, daß man sein Urtheil an an- berer ihre, nicht sowohl wirkliche als vielmehr blos mög- liche, Urtheile hält und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, indem man blos von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt, welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in unserm Vorstellungszustande Materie d. i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt und ledig- lich auf die formale Eigenthümlichkeiten seiner Vorstellung, oder seines Vorstellungs-Zustandes, Acht hat. Nun scheint diese Operation der Reflexion vielleicht allzu künstlich zu seyn, um sie dem Vermögen, welches wir den gemeinen Sinn nennen, beyzulegen; allein sie sieht auch nur so
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
blos in unſerer Sprache, die in dieſem wirklich eine Zweydeutigkeit enthaͤlt, ſondern auch in mancher an- dern) ſo viel als das vulgare, was man allenthalben an- trift, verſteht, welches zu beſitzen ſchlechterdings kein Verdienſt oder Vorzug iſt.
Unter dem ſenſus communis aber muß man die Jdee eines gemeinſchaftlichen Sinnes, d. i. eines Beur- theilungsvermoͤgens verſtehen, welches in ſeiner Reflexion auf die Vorſtellungsart jedes: andern in Gedanken (a priori) Ruͤckſicht nimmt, um gleichſam an die geſammte Men- ſchenvernunft ſein Urtheil zu halten und dadurch der Jl- luſion zu entgehen, die aus ſubjectiven Privatbedingun- gen, die leicht fuͤr objectiv gehalten werden koͤnnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einflus haben wuͤrden. Die- ſes geſchieht nun dadurch, daß man ſein Urtheil an an- berer ihre, nicht ſowohl wirkliche als vielmehr blos moͤg- liche, Urtheile haͤlt und ſich in die Stelle jedes anderen verſetzt, indem man blos von den Beſchraͤnkungen, die unſerer eigenen Beurtheilung zufaͤlliger Weiſe anhaͤngen, abſtrahirt, welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in unſerm Vorſtellungszuſtande Materie d. i. Empfindung iſt, ſo viel moͤglich weglaͤßt und ledig- lich auf die formale Eigenthuͤmlichkeiten ſeiner Vorſtellung, oder ſeines Vorſtellungs-Zuſtandes, Acht hat. Nun ſcheint dieſe Operation der Reflexion vielleicht allzu kuͤnſtlich zu ſeyn, um ſie dem Vermoͤgen, welches wir den gemeinen Sinn nennen, beyzulegen; allein ſie ſieht auch nur ſo
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
blos in unſerer Sprache, die in dieſem wirklich eine
Zweydeutigkeit enthaͤlt, ſondern auch in mancher an-
dern) ſo viel als das vulgare, was man allenthalben an-
trift, verſteht, welches zu beſitzen ſchlechterdings kein
Verdienſt oder Vorzug iſt.
Unter dem ſenſus communis aber muß man die Jdee
eines gemeinſchaftlichen Sinnes, d. i. eines Beur-
theilungsvermoͤgens verſtehen, welches in ſeiner Reflexion
auf die Vorſtellungsart jedes: andern in Gedanken (a priori)
Ruͤckſicht nimmt, um gleichſam an die geſammte Men-
ſchenvernunft ſein Urtheil zu halten und dadurch der Jl-
luſion zu entgehen, die aus ſubjectiven Privatbedingun-
gen, die leicht fuͤr objectiv gehalten werden koͤnnten, auf
das Urtheil nachtheiligen Einflus haben wuͤrden. Die-
ſes geſchieht nun dadurch, daß man ſein Urtheil an an-
berer ihre, nicht ſowohl wirkliche als vielmehr blos moͤg-
liche, Urtheile haͤlt und ſich in die Stelle jedes anderen
verſetzt, indem man blos von den Beſchraͤnkungen, die
unſerer eigenen Beurtheilung zufaͤlliger Weiſe anhaͤngen,
abſtrahirt, welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß
man das, was in unſerm Vorſtellungszuſtande Materie
d. i. Empfindung iſt, ſo viel moͤglich weglaͤßt und ledig-
lich auf die formale Eigenthuͤmlichkeiten ſeiner Vorſtellung,
oder ſeines Vorſtellungs-Zuſtandes, Acht hat. Nun ſcheint
dieſe Operation der Reflexion vielleicht allzu kuͤnſtlich zu
ſeyn, um ſie dem Vermoͤgen, welches wir den gemeinen
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/219>, abgerufen am 05.12.2024.
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