halten werden müsse, die sich nicht nach der Verschieden- heit der Köpfe und so vieler Sinne richtet, sondern dar- nach sich diese richten müssen, wenn sie darüber urtheilen wollen, und doch verhält es sich nicht so. Denn darin besteht eben das Geschmacksurtheil, daß es eine Sache nur nach derjenigen Beschaffenheit schön nennt, in wel- cher sie sich nach unserer Art sie aufzunehmen richtet.
Ueberdies wird von jedem Urtheil, welches den Ge- schmack des Subjects beweisen soll, verlangt: daß das Subject für sich, ohne nöthig zu haben durch Erfahrung unter anderer ihren Urtheilen herumzutappen, und sich von ihrem Wohlgefallen oder Misfallen an demselben Gegenstande vorher zu belehren, mithin nicht als Nach- ahmung, da etwas wirklich allgemein gefällt, folglich a priori ausgesprochen werden solle. Man sollte aber denken, daß ein Urtheil a priori einen Begrif vom Object enthalten müsse, zu dessen Erkenntnis es das Princip enthält; das Geschmacksurtheil aber gründet sich gar nicht auf Begriffe und ist überall nicht Erkenntnis, son- dern nur ein ästhetisches Urtheil.
Daher läßt sich ein junger Dichter von der Ueberre- dung, daß sein Gedicht schön sey, nicht durch das Ur- theil des Publicums, nicht durch das seiner Freunde, abbringen und, wenn er ihnen Gehör giebt, so geschieht es nicht darum, weil er es nun anders beurtheilt, son- dern weil er, wenn gleich (wenigstens in Absicht seiner) das ganze Publicum einen falschen Geschmack hätte, sich
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
halten werden muͤſſe, die ſich nicht nach der Verſchieden- heit der Koͤpfe und ſo vieler Sinne richtet, ſondern dar- nach ſich dieſe richten muͤſſen, wenn ſie daruͤber urtheilen wollen, und doch verhaͤlt es ſich nicht ſo. Denn darin beſteht eben das Geſchmacksurtheil, daß es eine Sache nur nach derjenigen Beſchaffenheit ſchoͤn nennt, in wel- cher ſie ſich nach unſerer Art ſie aufzunehmen richtet.
Ueberdies wird von jedem Urtheil, welches den Ge- ſchmack des Subjects beweiſen ſoll, verlangt: daß das Subject fuͤr ſich, ohne noͤthig zu haben durch Erfahrung unter anderer ihren Urtheilen herumzutappen, und ſich von ihrem Wohlgefallen oder Misfallen an demſelben Gegenſtande vorher zu belehren, mithin nicht als Nach- ahmung, da etwas wirklich allgemein gefaͤllt, folglich a priori ausgeſprochen werden ſolle. Man ſollte aber denken, daß ein Urtheil a priori einen Begrif vom Object enthalten muͤſſe, zu deſſen Erkenntnis es das Princip enthaͤlt; das Geſchmacksurtheil aber gruͤndet ſich gar nicht auf Begriffe und iſt uͤberall nicht Erkenntnis, ſon- dern nur ein aͤſthetiſches Urtheil.
Daher laͤßt ſich ein junger Dichter von der Ueberre- dung, daß ſein Gedicht ſchoͤn ſey, nicht durch das Ur- theil des Publicums, nicht durch das ſeiner Freunde, abbringen und, wenn er ihnen Gehoͤr giebt, ſo geſchieht es nicht darum, weil er es nun anders beurtheilt, ſon- dern weil er, wenn gleich (wenigſtens in Abſicht ſeiner) das ganze Publicum einen falſchen Geſchmack haͤtte, ſich
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
halten werden muͤſſe, die ſich nicht nach der Verſchieden-
heit der Koͤpfe und ſo vieler Sinne richtet, ſondern dar-
nach ſich dieſe richten muͤſſen, wenn ſie daruͤber urtheilen
wollen, und doch verhaͤlt es ſich nicht ſo. Denn darin
beſteht eben das Geſchmacksurtheil, daß es eine Sache
nur nach derjenigen Beſchaffenheit ſchoͤn nennt, in wel-
cher ſie ſich nach unſerer Art ſie aufzunehmen richtet.
Ueberdies wird von jedem Urtheil, welches den Ge-
ſchmack des Subjects beweiſen ſoll, verlangt: daß das
Subject fuͤr ſich, ohne noͤthig zu haben durch Erfahrung
unter anderer ihren Urtheilen herumzutappen, und ſich
von ihrem Wohlgefallen oder Misfallen an demſelben
Gegenſtande vorher zu belehren, mithin nicht als Nach-
ahmung, da etwas wirklich allgemein gefaͤllt, folglich
a priori ausgeſprochen werden ſolle. Man ſollte aber
denken, daß ein Urtheil a priori einen Begrif vom Object
enthalten muͤſſe, zu deſſen Erkenntnis es das Princip
enthaͤlt; das Geſchmacksurtheil aber gruͤndet ſich gar
nicht auf Begriffe und iſt uͤberall nicht Erkenntnis, ſon-
dern nur ein aͤſthetiſches Urtheil.
Daher laͤßt ſich ein junger Dichter von der Ueberre-
dung, daß ſein Gedicht ſchoͤn ſey, nicht durch das Ur-
theil des Publicums, nicht durch das ſeiner Freunde,
abbringen und, wenn er ihnen Gehoͤr giebt, ſo geſchieht
es nicht darum, weil er es nun anders beurtheilt, ſon-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/199>, abgerufen am 12.12.2024.
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