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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
mithin der Zusammenfassung des Vielen in eine
Anschauung, bis zur Grenze des Vermögens der Einbil-
dungskraft, und so weit, wie diese in Darstellungen
nur immer reichen mag, zu treiben nöthigte. Denn in
der Verstandesschätzung der Größen (der Arithmetik)
kommt man eben so weit, ob man die Zusammenfassung
der Einheiten bis zur Zahl 10 (in der Decadik) oder nur
bis 4 (in der Tetractik) treibt; die weitere Größener-
zeugung aber im Zusammensetzen, oder, wenn das
Quantum in der Anschauung gegeben ist, im Auffassen,
blos progressiv (nicht comprehensiv) nach einem ange-
nommenen Progressionsprincip verrichtet. Der Ver-
stand wird in dieser mathematischen Größenschätzung
eben so gut bedient und befriedigt, ob Einbildungskraft
zur Einheit eine Größe, die man in einem Blick fassen
kann, z. B. einen Fus oder Ruthe, oder ob sie eine deut-
sche Meile, oder gar einen Erddurchmesser, deren Auf-
fassung zwar, aber nicht die Zusammenfassung in eine
Anschauung der Einbildungskraft (nicht durch die com-
prehensio aesthetica,
obzwar gar wohl durch compre-
hensio logica
in einen Zahlbegrif) möglich ist, wähle.
Jn beyden Fällen geht die logische Größenschätzung un-
gehindert ins Unendliche.

Nun aber hört das Gemüth in sich auf die Stimme
der Vernunft, welche zu allen gegebenen Größen, selbst
denen, die zwar niemals ganz aufgefaßt werden können,
gleichwohl aber (in der sinnlichen Vorstellung) als ganz

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
mithin der Zuſammenfaſſung des Vielen in eine
Anſchauung, bis zur Grenze des Vermoͤgens der Einbil-
dungskraft, und ſo weit, wie dieſe in Darſtellungen
nur immer reichen mag, zu treiben noͤthigte. Denn in
der Verſtandesſchaͤtzung der Groͤßen (der Arithmetik)
kommt man eben ſo weit, ob man die Zuſammenfaſſung
der Einheiten bis zur Zahl 10 (in der Decadik) oder nur
bis 4 (in der Tetractik) treibt; die weitere Groͤßener-
zeugung aber im Zuſammenſetzen, oder, wenn das
Quantum in der Anſchauung gegeben iſt, im Auffaſſen,
blos progreſſiv (nicht comprehenſiv) nach einem ange-
nommenen Progreſſionsprincip verrichtet. Der Ver-
ſtand wird in dieſer mathematiſchen Groͤßenſchaͤtzung
eben ſo gut bedient und befriedigt, ob Einbildungskraft
zur Einheit eine Groͤße, die man in einem Blick faſſen
kann, z. B. einen Fus oder Ruthe, oder ob ſie eine deut-
ſche Meile, oder gar einen Erddurchmeſſer, deren Auf-
faſſung zwar, aber nicht die Zuſammenfaſſung in eine
Anſchauung der Einbildungskraft (nicht durch die com-
prehenſio aeſthetica,
obzwar gar wohl durch compre-
henſio logica
in einen Zahlbegrif) moͤglich iſt, waͤhle.
Jn beyden Faͤllen geht die logiſche Groͤßenſchaͤtzung un-
gehindert ins Unendliche.

Nun aber hoͤrt das Gemuͤth in ſich auf die Stimme
der Vernunft, welche zu allen gegebenen Groͤßen, ſelbſt
denen, die zwar niemals ganz aufgefaßt werden koͤnnen,
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[90/0154] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. mithin der Zuſammenfaſſung des Vielen in eine Anſchauung, bis zur Grenze des Vermoͤgens der Einbil- dungskraft, und ſo weit, wie dieſe in Darſtellungen nur immer reichen mag, zu treiben noͤthigte. Denn in der Verſtandesſchaͤtzung der Groͤßen (der Arithmetik) kommt man eben ſo weit, ob man die Zuſammenfaſſung der Einheiten bis zur Zahl 10 (in der Decadik) oder nur bis 4 (in der Tetractik) treibt; die weitere Groͤßener- zeugung aber im Zuſammenſetzen, oder, wenn das Quantum in der Anſchauung gegeben iſt, im Auffaſſen, blos progreſſiv (nicht comprehenſiv) nach einem ange- nommenen Progreſſionsprincip verrichtet. Der Ver- ſtand wird in dieſer mathematiſchen Groͤßenſchaͤtzung eben ſo gut bedient und befriedigt, ob Einbildungskraft zur Einheit eine Groͤße, die man in einem Blick faſſen kann, z. B. einen Fus oder Ruthe, oder ob ſie eine deut- ſche Meile, oder gar einen Erddurchmeſſer, deren Auf- faſſung zwar, aber nicht die Zuſammenfaſſung in eine Anſchauung der Einbildungskraft (nicht durch die com- prehenſio aeſthetica, obzwar gar wohl durch compre- henſio logica in einen Zahlbegrif) moͤglich iſt, waͤhle. Jn beyden Faͤllen geht die logiſche Groͤßenſchaͤtzung un- gehindert ins Unendliche. Nun aber hoͤrt das Gemuͤth in ſich auf die Stimme der Vernunft, welche zu allen gegebenen Groͤßen, ſelbſt denen, die zwar niemals ganz aufgefaßt werden koͤnnen, gleichwohl aber (in der ſinnlichen Vorſtellung) als ganz

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/154>, abgerufen am 12.12.2024.