Allein es sind auch namhafte Unterschiede zwischen beyden in die Augen fallend. Das Schöne der Natur betrift die Form des Gegenstandes, die in der Begren- zung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenzt- heit an ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorge- gestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird; so daß das Schöne für die Darstellung eines unbestimm- ten Verstandesbegrifs, das Erhabene aber, eines der- gleichen Vernunftbegrifs, genommen zu werden scheint. Also ist das Wohlgefallen dort mit der Vorstellung der Qualität, hier aber der Quantität verbunden. Auch ist das letztere der Art nach von dem ersteren Wohlgefal- len gar sehr unterschieden, indem dieses directe ein Ge- fühl der Beförderung des Lebens bey sich führt und da- her mit Reitzen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist, jenes aber eine Lust ist, welche nur indi- recte entspringt, nämlich so daß sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung der- selben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu seyn scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist und, indem das Gemüth von dem Gegenstande nicht blos angezogen, sondern wechselsweise auch immer wie- der abgestoßen wird, das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust als vielmehr Bewunderung
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Allein es ſind auch namhafte Unterſchiede zwiſchen beyden in die Augen fallend. Das Schoͤne der Natur betrift die Form des Gegenſtandes, die in der Begren- zung beſteht; das Erhabene iſt dagegen auch an einem formloſen Gegenſtande zu finden, ſofern Unbegrenzt- heit an ihm, oder durch deſſen Veranlaſſung, vorge- geſtellt und doch Totalitaͤt derſelben hinzugedacht wird; ſo daß das Schoͤne fuͤr die Darſtellung eines unbeſtimm- ten Verſtandesbegrifs, das Erhabene aber, eines der- gleichen Vernunftbegrifs, genommen zu werden ſcheint. Alſo iſt das Wohlgefallen dort mit der Vorſtellung der Qualitaͤt, hier aber der Quantitaͤt verbunden. Auch iſt das letztere der Art nach von dem erſteren Wohlgefal- len gar ſehr unterſchieden, indem dieſes directe ein Ge- fuͤhl der Befoͤrderung des Lebens bey ſich fuͤhrt und da- her mit Reitzen und einer ſpielenden Einbildungskraft vereinbar iſt, jenes aber eine Luſt iſt, welche nur indi- recte entſpringt, naͤmlich ſo daß ſie durch das Gefuͤhl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskraͤfte und darauf ſogleich folgenden deſto ſtaͤrkeren Ergießung der- ſelben erzeugt wird, mithin als Ruͤhrung kein Spiel, ſondern Ernſt in der Beſchaͤftigung der Einbildungskraft zu ſeyn ſcheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar iſt und, indem das Gemuͤth von dem Gegenſtande nicht blos angezogen, ſondern wechſelsweiſe auch immer wie- der abgeſtoßen wird, das Wohlgefallen am Erhabenen nicht ſowohl poſitive Luſt als vielmehr Bewunderung
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Allein es ſind auch namhafte Unterſchiede zwiſchen
beyden in die Augen fallend. Das Schoͤne der Natur
betrift die Form des Gegenſtandes, die in der Begren-
zung beſteht; das Erhabene iſt dagegen auch an einem
formloſen Gegenſtande zu finden, ſofern Unbegrenzt-
heit an ihm, oder durch deſſen Veranlaſſung, vorge-
geſtellt und doch Totalitaͤt derſelben hinzugedacht wird;
ſo daß das Schoͤne fuͤr die Darſtellung eines unbeſtimm-
ten Verſtandesbegrifs, das Erhabene aber, eines der-
gleichen Vernunftbegrifs, genommen zu werden ſcheint.
Alſo iſt das Wohlgefallen dort mit der Vorſtellung der
Qualitaͤt, hier aber der Quantitaͤt verbunden. Auch
iſt das letztere der Art nach von dem erſteren Wohlgefal-
len gar ſehr unterſchieden, indem dieſes directe ein Ge-
fuͤhl der Befoͤrderung des Lebens bey ſich fuͤhrt und da-
her mit Reitzen und einer ſpielenden Einbildungskraft
vereinbar iſt, jenes aber eine Luſt iſt, welche nur indi-
recte entſpringt, naͤmlich ſo daß ſie durch das Gefuͤhl
einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskraͤfte und
darauf ſogleich folgenden deſto ſtaͤrkeren Ergießung der-
ſelben erzeugt wird, mithin als Ruͤhrung kein Spiel,
ſondern Ernſt in der Beſchaͤftigung der Einbildungskraft
zu ſeyn ſcheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar
iſt und, indem das Gemuͤth von dem Gegenſtande nicht
blos angezogen, ſondern wechſelsweiſe auch immer wie-
der abgeſtoßen wird, das Wohlgefallen am Erhabenen
nicht ſowohl poſitive Luſt als vielmehr Bewunderung
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/138>, abgerufen am 05.12.2024.
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