Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
Wohlgefallen oder Misfallen, ohne Rücksicht auf den Ge-
brauch oder einen Zweck, mit der bloßen Betrachtung des
Gegenstandes unmittelbar verbindet.

Die Regelmäßigkeit, die zum Begriffe von einem Ge-
genstande führt, ist zwar die unentbehrliche Bedingung
(conditio sine qua non) den Gegenstand in eine einzige Vor-
stellung zu fassen, und das Mannigfaltige in der Form des-
selben zu bestimmen. Diese Bestimmung ist ein Zweck in
Ansehung der Erkenntnis und in Beziehung auf diese ist sie
auch jederzeit mit Wohlgefallen (welche die Bewirkung einer
jeden auch blos problematischen Absicht begleitet) verbunden.
Es ist aber blos die Billigung der Auflösung die einer Auf-
gabe Gnüge thut und nicht eine freye und unbestimmt-zweck-
mäßige Unterhaltung der Gemüthskräfte, mit dem, was
wir schön nennen und wo der Verstand der Einbildungskraft
und nicht diese jenem zu Diensten ist.

An einem Dinge, was nur durch eine Absicht möglich
ist, einem Gebäude, selbst einem Thier, muß die Regelmäs-
sigkeit, die in der Symmetrie besteht, die Einheit der An-
schauung ausdrücken, welche den Begrif des Zwecks begleitet
und gehört mit zum Erkenntnisse. Aber wo nur ein freyes
Spiel der Vorstellungskräfte (doch unter der Bedingung, daß
der Verstand dabey keinen Anstos leide) unterhalten werden
soll, in Lustgärten, Stubenverzierung, allerley geschmackvol-
lem Geräthe u. d. gl. wird die Regelmäßigkeit, die sich als
Zwang ankündigt, so viel möglich vermieden; daher der engli-
sche Geschmack in Gärten, der Barockgeschmack an Mobilien,
die Freyheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Annähe-
rung zum Grotesken treibt und in dieser Absonderung von
allem Zwange der Regeln eben den Fall setzt, wo der Ge-
schmack in Entwürfen der Einbildungskraft seine größte Voll-
kommenheit zeigen kann.

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Wohlgefallen oder Misfallen, ohne Ruͤckſicht auf den Ge-
brauch oder einen Zweck, mit der bloßen Betrachtung des
Gegenſtandes unmittelbar verbindet.

Die Regelmaͤßigkeit, die zum Begriffe von einem Ge-
genſtande fuͤhrt, iſt zwar die unentbehrliche Bedingung
(conditio ſine qua non) den Gegenſtand in eine einzige Vor-
ſtellung zu faſſen, und das Mannigfaltige in der Form deſ-
ſelben zu beſtimmen. Dieſe Beſtimmung iſt ein Zweck in
Anſehung der Erkenntnis und in Beziehung auf dieſe iſt ſie
auch jederzeit mit Wohlgefallen (welche die Bewirkung einer
jeden auch blos problematiſchen Abſicht begleitet) verbunden.
Es iſt aber blos die Billigung der Aufloͤſung die einer Auf-
gabe Gnuͤge thut und nicht eine freye und unbeſtimmt-zweck-
maͤßige Unterhaltung der Gemuͤthskraͤfte, mit dem, was
wir ſchoͤn nennen und wo der Verſtand der Einbildungskraft
und nicht dieſe jenem zu Dienſten iſt.

An einem Dinge, was nur durch eine Abſicht moͤglich
iſt, einem Gebaͤude, ſelbſt einem Thier, muß die Regelmaͤſ-
ſigkeit, die in der Symmetrie beſteht, die Einheit der An-
ſchauung ausdruͤcken, welche den Begrif des Zwecks begleitet
und gehoͤrt mit zum Erkenntniſſe. Aber wo nur ein freyes
Spiel der Vorſtellungskraͤfte (doch unter der Bedingung, daß
der Verſtand dabey keinen Anſtos leide) unterhalten werden
ſoll, in Luſtgaͤrten, Stubenverzierung, allerley geſchmackvol-
lem Geraͤthe u. d. gl. wird die Regelmaͤßigkeit, die ſich als
Zwang ankuͤndigt, ſo viel moͤglich vermieden; daher der engli-
ſche Geſchmack in Gaͤrten, der Barockgeſchmack an Mobilien,
die Freyheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Annaͤhe-
rung zum Grotesken treibt und in dieſer Abſonderung von
allem Zwange der Regeln eben den Fall ſetzt, wo der Ge-
ſchmack in Entwuͤrfen der Einbildungskraft ſeine groͤßte Voll-
kommenheit zeigen kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0134" n="70"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
Wohlgefallen oder Misfallen, ohne Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf den Ge-<lb/>
brauch oder einen Zweck, mit der bloßen <hi rendition="#fr">Betrachtung</hi> des<lb/>
Gegen&#x017F;tandes unmittelbar verbindet.</p><lb/>
              <p>Die Regelma&#x0364;ßigkeit, die zum Begriffe von einem Ge-<lb/>
gen&#x017F;tande fu&#x0364;hrt, i&#x017F;t zwar die unentbehrliche Bedingung<lb/>
(<hi rendition="#aq">conditio &#x017F;ine qua non</hi>) den Gegen&#x017F;tand in eine einzige Vor-<lb/>
&#x017F;tellung zu fa&#x017F;&#x017F;en, und das Mannigfaltige in der Form de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;elben zu be&#x017F;timmen. Die&#x017F;e Be&#x017F;timmung i&#x017F;t ein Zweck in<lb/>
An&#x017F;ehung der Erkenntnis und in Beziehung auf die&#x017F;e i&#x017F;t &#x017F;ie<lb/>
auch jederzeit mit Wohlgefallen (welche die Bewirkung einer<lb/>
jeden auch blos problemati&#x017F;chen Ab&#x017F;icht begleitet) verbunden.<lb/>
Es i&#x017F;t aber blos die Billigung der Auflo&#x0364;&#x017F;ung die einer Auf-<lb/>
gabe Gnu&#x0364;ge thut und nicht eine freye und unbe&#x017F;timmt-zweck-<lb/>
ma&#x0364;ßige Unterhaltung der Gemu&#x0364;thskra&#x0364;fte, mit dem, was<lb/>
wir &#x017F;cho&#x0364;n nennen und wo der Ver&#x017F;tand der Einbildungskraft<lb/>
und nicht die&#x017F;e jenem zu Dien&#x017F;ten i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>An einem Dinge, was nur durch eine Ab&#x017F;icht mo&#x0364;glich<lb/>
i&#x017F;t, einem Geba&#x0364;ude, &#x017F;elb&#x017F;t einem Thier, muß die Regelma&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;igkeit, die in der Symmetrie be&#x017F;teht, die Einheit der An-<lb/>
&#x017F;chauung ausdru&#x0364;cken, welche den Begrif des Zwecks begleitet<lb/>
und geho&#x0364;rt mit zum Erkenntni&#x017F;&#x017F;e. Aber wo nur ein freyes<lb/>
Spiel der Vor&#x017F;tellungskra&#x0364;fte (doch unter der Bedingung, daß<lb/>
der Ver&#x017F;tand dabey keinen An&#x017F;tos leide) unterhalten werden<lb/>
&#x017F;oll, in Lu&#x017F;tga&#x0364;rten, Stubenverzierung, allerley ge&#x017F;chmackvol-<lb/>
lem Gera&#x0364;the u. d. gl. wird die Regelma&#x0364;ßigkeit, die &#x017F;ich als<lb/>
Zwang anku&#x0364;ndigt, &#x017F;o viel mo&#x0364;glich vermieden; daher der engli-<lb/>
&#x017F;che Ge&#x017F;chmack in Ga&#x0364;rten, der Barockge&#x017F;chmack an Mobilien,<lb/>
die Freyheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Anna&#x0364;he-<lb/>
rung zum Grotesken treibt und in die&#x017F;er Ab&#x017F;onderung von<lb/>
allem Zwange der Regeln eben den Fall &#x017F;etzt, wo der Ge-<lb/>
&#x017F;chmack in Entwu&#x0364;rfen der Einbildungskraft &#x017F;eine gro&#x0364;ßte Voll-<lb/>
kommenheit zeigen kann.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0134] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Wohlgefallen oder Misfallen, ohne Ruͤckſicht auf den Ge- brauch oder einen Zweck, mit der bloßen Betrachtung des Gegenſtandes unmittelbar verbindet. Die Regelmaͤßigkeit, die zum Begriffe von einem Ge- genſtande fuͤhrt, iſt zwar die unentbehrliche Bedingung (conditio ſine qua non) den Gegenſtand in eine einzige Vor- ſtellung zu faſſen, und das Mannigfaltige in der Form deſ- ſelben zu beſtimmen. Dieſe Beſtimmung iſt ein Zweck in Anſehung der Erkenntnis und in Beziehung auf dieſe iſt ſie auch jederzeit mit Wohlgefallen (welche die Bewirkung einer jeden auch blos problematiſchen Abſicht begleitet) verbunden. Es iſt aber blos die Billigung der Aufloͤſung die einer Auf- gabe Gnuͤge thut und nicht eine freye und unbeſtimmt-zweck- maͤßige Unterhaltung der Gemuͤthskraͤfte, mit dem, was wir ſchoͤn nennen und wo der Verſtand der Einbildungskraft und nicht dieſe jenem zu Dienſten iſt. An einem Dinge, was nur durch eine Abſicht moͤglich iſt, einem Gebaͤude, ſelbſt einem Thier, muß die Regelmaͤſ- ſigkeit, die in der Symmetrie beſteht, die Einheit der An- ſchauung ausdruͤcken, welche den Begrif des Zwecks begleitet und gehoͤrt mit zum Erkenntniſſe. Aber wo nur ein freyes Spiel der Vorſtellungskraͤfte (doch unter der Bedingung, daß der Verſtand dabey keinen Anſtos leide) unterhalten werden ſoll, in Luſtgaͤrten, Stubenverzierung, allerley geſchmackvol- lem Geraͤthe u. d. gl. wird die Regelmaͤßigkeit, die ſich als Zwang ankuͤndigt, ſo viel moͤglich vermieden; daher der engli- ſche Geſchmack in Gaͤrten, der Barockgeſchmack an Mobilien, die Freyheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Annaͤhe- rung zum Grotesken treibt und in dieſer Abſonderung von allem Zwange der Regeln eben den Fall ſetzt, wo der Ge- ſchmack in Entwuͤrfen der Einbildungskraft ſeine groͤßte Voll- kommenheit zeigen kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/134
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/134>, abgerufen am 05.12.2024.