Wohlgefallen oder Misfallen, ohne Rücksicht auf den Ge- brauch oder einen Zweck, mit der bloßen Betrachtung des Gegenstandes unmittelbar verbindet.
Die Regelmäßigkeit, die zum Begriffe von einem Ge- genstande führt, ist zwar die unentbehrliche Bedingung (conditio sine qua non) den Gegenstand in eine einzige Vor- stellung zu fassen, und das Mannigfaltige in der Form des- selben zu bestimmen. Diese Bestimmung ist ein Zweck in Ansehung der Erkenntnis und in Beziehung auf diese ist sie auch jederzeit mit Wohlgefallen (welche die Bewirkung einer jeden auch blos problematischen Absicht begleitet) verbunden. Es ist aber blos die Billigung der Auflösung die einer Auf- gabe Gnüge thut und nicht eine freye und unbestimmt-zweck- mäßige Unterhaltung der Gemüthskräfte, mit dem, was wir schön nennen und wo der Verstand der Einbildungskraft und nicht diese jenem zu Diensten ist.
An einem Dinge, was nur durch eine Absicht möglich ist, einem Gebäude, selbst einem Thier, muß die Regelmäs- sigkeit, die in der Symmetrie besteht, die Einheit der An- schauung ausdrücken, welche den Begrif des Zwecks begleitet und gehört mit zum Erkenntnisse. Aber wo nur ein freyes Spiel der Vorstellungskräfte (doch unter der Bedingung, daß der Verstand dabey keinen Anstos leide) unterhalten werden soll, in Lustgärten, Stubenverzierung, allerley geschmackvol- lem Geräthe u. d. gl. wird die Regelmäßigkeit, die sich als Zwang ankündigt, so viel möglich vermieden; daher der engli- sche Geschmack in Gärten, der Barockgeschmack an Mobilien, die Freyheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Annähe- rung zum Grotesken treibt und in dieser Absonderung von allem Zwange der Regeln eben den Fall setzt, wo der Ge- schmack in Entwürfen der Einbildungskraft seine größte Voll- kommenheit zeigen kann.
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Wohlgefallen oder Misfallen, ohne Ruͤckſicht auf den Ge- brauch oder einen Zweck, mit der bloßen Betrachtung des Gegenſtandes unmittelbar verbindet.
Die Regelmaͤßigkeit, die zum Begriffe von einem Ge- genſtande fuͤhrt, iſt zwar die unentbehrliche Bedingung (conditio ſine qua non) den Gegenſtand in eine einzige Vor- ſtellung zu faſſen, und das Mannigfaltige in der Form deſ- ſelben zu beſtimmen. Dieſe Beſtimmung iſt ein Zweck in Anſehung der Erkenntnis und in Beziehung auf dieſe iſt ſie auch jederzeit mit Wohlgefallen (welche die Bewirkung einer jeden auch blos problematiſchen Abſicht begleitet) verbunden. Es iſt aber blos die Billigung der Aufloͤſung die einer Auf- gabe Gnuͤge thut und nicht eine freye und unbeſtimmt-zweck- maͤßige Unterhaltung der Gemuͤthskraͤfte, mit dem, was wir ſchoͤn nennen und wo der Verſtand der Einbildungskraft und nicht dieſe jenem zu Dienſten iſt.
An einem Dinge, was nur durch eine Abſicht moͤglich iſt, einem Gebaͤude, ſelbſt einem Thier, muß die Regelmaͤſ- ſigkeit, die in der Symmetrie beſteht, die Einheit der An- ſchauung ausdruͤcken, welche den Begrif des Zwecks begleitet und gehoͤrt mit zum Erkenntniſſe. Aber wo nur ein freyes Spiel der Vorſtellungskraͤfte (doch unter der Bedingung, daß der Verſtand dabey keinen Anſtos leide) unterhalten werden ſoll, in Luſtgaͤrten, Stubenverzierung, allerley geſchmackvol- lem Geraͤthe u. d. gl. wird die Regelmaͤßigkeit, die ſich als Zwang ankuͤndigt, ſo viel moͤglich vermieden; daher der engli- ſche Geſchmack in Gaͤrten, der Barockgeſchmack an Mobilien, die Freyheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Annaͤhe- rung zum Grotesken treibt und in dieſer Abſonderung von allem Zwange der Regeln eben den Fall ſetzt, wo der Ge- ſchmack in Entwuͤrfen der Einbildungskraft ſeine groͤßte Voll- kommenheit zeigen kann.
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Wohlgefallen oder Misfallen, ohne Ruͤckſicht auf den Ge-
brauch oder einen Zweck, mit der bloßen Betrachtung des
Gegenſtandes unmittelbar verbindet.
Die Regelmaͤßigkeit, die zum Begriffe von einem Ge-
genſtande fuͤhrt, iſt zwar die unentbehrliche Bedingung
(conditio ſine qua non) den Gegenſtand in eine einzige Vor-
ſtellung zu faſſen, und das Mannigfaltige in der Form deſ-
ſelben zu beſtimmen. Dieſe Beſtimmung iſt ein Zweck in
Anſehung der Erkenntnis und in Beziehung auf dieſe iſt ſie
auch jederzeit mit Wohlgefallen (welche die Bewirkung einer
jeden auch blos problematiſchen Abſicht begleitet) verbunden.
Es iſt aber blos die Billigung der Aufloͤſung die einer Auf-
gabe Gnuͤge thut und nicht eine freye und unbeſtimmt-zweck-
maͤßige Unterhaltung der Gemuͤthskraͤfte, mit dem, was
wir ſchoͤn nennen und wo der Verſtand der Einbildungskraft
und nicht dieſe jenem zu Dienſten iſt.
An einem Dinge, was nur durch eine Abſicht moͤglich
iſt, einem Gebaͤude, ſelbſt einem Thier, muß die Regelmaͤſ-
ſigkeit, die in der Symmetrie beſteht, die Einheit der An-
ſchauung ausdruͤcken, welche den Begrif des Zwecks begleitet
und gehoͤrt mit zum Erkenntniſſe. Aber wo nur ein freyes
Spiel der Vorſtellungskraͤfte (doch unter der Bedingung, daß
der Verſtand dabey keinen Anſtos leide) unterhalten werden
ſoll, in Luſtgaͤrten, Stubenverzierung, allerley geſchmackvol-
lem Geraͤthe u. d. gl. wird die Regelmaͤßigkeit, die ſich als
Zwang ankuͤndigt, ſo viel moͤglich vermieden; daher der engli-
ſche Geſchmack in Gaͤrten, der Barockgeſchmack an Mobilien,
die Freyheit der Einbildungskraft wohl eher bis zur Annaͤhe-
rung zum Grotesken treibt und in dieſer Abſonderung von
allem Zwange der Regeln eben den Fall ſetzt, wo der Ge-
ſchmack in Entwuͤrfen der Einbildungskraft ſeine groͤßte Voll-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/134>, abgerufen am 05.12.2024.
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