Nun werden geometrisch-regelmäßige Gestalten, eine Cirkelfigur, ein Quadrat, ein Würfel u. s. w. von Critikern des Geschmacks gemeiniglich als die einfachsten und unzwei- felhaftesten Beyspiele der Schönheit angeführt und demnach werden sie eben darum regelmäßig genannt, weil man sie nicht anders vorstellen kann als so, daß sie für bloße Dar- stellungen eines bestimmten Begrifs, der jener Gestalt die Regel vorschreibt (nach der sie allein möglich ist) angesehen werden. Eines von beyden muß also irrig seyn, entweder jenes Urtheil der Critiker gedachten Gestalten Schönheit bey- zulegen, oder das unsrige, welches Zweckmäßigkeit ohne Be- grif zur Schönheit nöthig findet.
Niemand wird leichtlich einen Menschen von Geschmack dazu nöthig finden, um an einer Cirkelgest[a]lt mehr Wohlge- fallen, als an einem kritzlichen Umrisse, an einem gleichseiti- gen und gleicheckigten Viereck mehr, als an einem schiefen un- gleichseitigen, gleichsam verkrüppelten zu finden; denn dazu ge- hört nur gemeiner Verstand und gar kein Geschmack. Wo eine Absicht z. B. die Größe eines Platzes zu beurtheilen, oder das Verhältnis der Theile zu einander und zum Ganzen in einer Eintheilung, da sind regelmäßige Gestalten, und zwar die von der einfachsten Art, nöthig und das Wohlgefallen ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Gestalt, sondern der Brauchbarkeit derselben zu allerley möglicher Absicht. Ein Zimmer, dessen Wände schiefe Winkel machen, ein Garten- platz von solcher Art, selbst alle Verletzung der Symmetrie sowohl in der Gestalt der Thiere, (z. B. einäugigt zu seyn) oder der Gebäude, oder der Blumenstücke, misfällt, weil es zweckwidrig ist, nicht allein pra[k]tisch in Ansehung eines bestimmten Gebrauchs dieser Dinge, sondern auch für die Beurtheilung in allerley möglicher Absicht, welches der Fall im Geschmacksurtheile nicht ist, welches, wenn es rein ist,
E 3
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Nun werden geometriſch-regelmaͤßige Geſtalten, eine Cirkelfigur, ein Quadrat, ein Wuͤrfel u. ſ. w. von Critikern des Geſchmacks gemeiniglich als die einfachſten und unzwei- felhafteſten Beyſpiele der Schoͤnheit angefuͤhrt und demnach werden ſie eben darum regelmaͤßig genannt, weil man ſie nicht anders vorſtellen kann als ſo, daß ſie fuͤr bloße Dar- ſtellungen eines beſtimmten Begrifs, der jener Geſtalt die Regel vorſchreibt (nach der ſie allein moͤglich iſt) angeſehen werden. Eines von beyden muß alſo irrig ſeyn, entweder jenes Urtheil der Critiker gedachten Geſtalten Schoͤnheit bey- zulegen, oder das unſrige, welches Zweckmaͤßigkeit ohne Be- grif zur Schoͤnheit noͤthig findet.
Niemand wird leichtlich einen Menſchen von Geſchmack dazu noͤthig finden, um an einer Cirkelgeſt[a]lt mehr Wohlge- fallen, als an einem kritzlichen Umriſſe, an einem gleichſeiti- gen und gleicheckigten Viereck mehr, als an einem ſchiefen un- gleichſeitigen, gleichſam verkruͤppelten zu finden; denn dazu ge- hoͤrt nur gemeiner Verſtand und gar kein Geſchmack. Wo eine Abſicht z. B. die Groͤße eines Platzes zu beurtheilen, oder das Verhaͤltnis der Theile zu einander und zum Ganzen in einer Eintheilung, da ſind regelmaͤßige Geſtalten, und zwar die von der einfachſten Art, noͤthig und das Wohlgefallen ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Geſtalt, ſondern der Brauchbarkeit derſelben zu allerley moͤglicher Abſicht. Ein Zimmer, deſſen Waͤnde ſchiefe Winkel machen, ein Garten- platz von ſolcher Art, ſelbſt alle Verletzung der Symmetrie ſowohl in der Geſtalt der Thiere, (z. B. einaͤugigt zu ſeyn) oder der Gebaͤude, oder der Blumenſtuͤcke, misfaͤllt, weil es zweckwidrig iſt, nicht allein pra[k]tiſch in Anſehung eines beſtimmten Gebrauchs dieſer Dinge, ſondern auch fuͤr die Beurtheilung in allerley moͤglicher Abſicht, welches der Fall im Geſchmacksurtheile nicht iſt, welches, wenn es rein iſt,
E 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0133"n="69"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/><p>Nun werden geometriſch-regelmaͤßige Geſtalten, eine<lb/>
Cirkelfigur, ein Quadrat, ein Wuͤrfel u. ſ. w. von Critikern<lb/>
des Geſchmacks gemeiniglich als die einfachſten und unzwei-<lb/>
felhafteſten Beyſpiele der Schoͤnheit angefuͤhrt und demnach<lb/>
werden ſie eben darum regelmaͤßig genannt, weil man ſie<lb/>
nicht anders vorſtellen kann als ſo, daß ſie fuͤr bloße Dar-<lb/>ſtellungen eines beſtimmten Begrifs, der jener Geſtalt die<lb/>
Regel vorſchreibt (nach der ſie allein moͤglich iſt) angeſehen<lb/>
werden. Eines von beyden muß alſo irrig ſeyn, entweder<lb/>
jenes Urtheil der Critiker gedachten Geſtalten Schoͤnheit bey-<lb/>
zulegen, oder das unſrige, welches Zweckmaͤßigkeit ohne Be-<lb/>
grif zur Schoͤnheit noͤthig findet.</p><lb/><p>Niemand wird leichtlich einen Menſchen von Geſchmack<lb/>
dazu noͤthig finden, um an einer Cirkelgeſt<supplied>a</supplied>lt mehr Wohlge-<lb/>
fallen, als an einem kritzlichen Umriſſe, an einem gleichſeiti-<lb/>
gen und gleicheckigten Viereck mehr, als an einem ſchiefen un-<lb/>
gleichſeitigen, gleichſam verkruͤppelten zu finden; denn dazu ge-<lb/>
hoͤrt nur gemeiner Verſtand und gar kein Geſchmack. Wo eine<lb/>
Abſicht z. B. die Groͤße eines Platzes zu beurtheilen, oder<lb/>
das Verhaͤltnis der Theile zu einander und zum Ganzen in<lb/>
einer Eintheilung, da ſind regelmaͤßige Geſtalten, und zwar<lb/>
die von der einfachſten Art, noͤthig und das Wohlgefallen<lb/>
ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Geſtalt, ſondern<lb/>
der Brauchbarkeit derſelben zu allerley moͤglicher Abſicht. Ein<lb/>
Zimmer, deſſen Waͤnde ſchiefe Winkel machen, ein Garten-<lb/>
platz von ſolcher Art, ſelbſt alle Verletzung der Symmetrie<lb/>ſowohl in der Geſtalt der Thiere, (z. B. einaͤugigt zu ſeyn)<lb/>
oder der Gebaͤude, oder der Blumenſtuͤcke, misfaͤllt, weil<lb/>
es zweckwidrig iſt, nicht allein pra<supplied>k</supplied>tiſch in Anſehung eines<lb/>
beſtimmten Gebrauchs dieſer Dinge, ſondern auch fuͤr die<lb/>
Beurtheilung in allerley moͤglicher Abſicht, welches der Fall<lb/>
im Geſchmacksurtheile nicht iſt, welches, wenn es rein iſt,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">E 3</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[69/0133]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Nun werden geometriſch-regelmaͤßige Geſtalten, eine
Cirkelfigur, ein Quadrat, ein Wuͤrfel u. ſ. w. von Critikern
des Geſchmacks gemeiniglich als die einfachſten und unzwei-
felhafteſten Beyſpiele der Schoͤnheit angefuͤhrt und demnach
werden ſie eben darum regelmaͤßig genannt, weil man ſie
nicht anders vorſtellen kann als ſo, daß ſie fuͤr bloße Dar-
ſtellungen eines beſtimmten Begrifs, der jener Geſtalt die
Regel vorſchreibt (nach der ſie allein moͤglich iſt) angeſehen
werden. Eines von beyden muß alſo irrig ſeyn, entweder
jenes Urtheil der Critiker gedachten Geſtalten Schoͤnheit bey-
zulegen, oder das unſrige, welches Zweckmaͤßigkeit ohne Be-
grif zur Schoͤnheit noͤthig findet.
Niemand wird leichtlich einen Menſchen von Geſchmack
dazu noͤthig finden, um an einer Cirkelgeſtalt mehr Wohlge-
fallen, als an einem kritzlichen Umriſſe, an einem gleichſeiti-
gen und gleicheckigten Viereck mehr, als an einem ſchiefen un-
gleichſeitigen, gleichſam verkruͤppelten zu finden; denn dazu ge-
hoͤrt nur gemeiner Verſtand und gar kein Geſchmack. Wo eine
Abſicht z. B. die Groͤße eines Platzes zu beurtheilen, oder
das Verhaͤltnis der Theile zu einander und zum Ganzen in
einer Eintheilung, da ſind regelmaͤßige Geſtalten, und zwar
die von der einfachſten Art, noͤthig und das Wohlgefallen
ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Geſtalt, ſondern
der Brauchbarkeit derſelben zu allerley moͤglicher Abſicht. Ein
Zimmer, deſſen Waͤnde ſchiefe Winkel machen, ein Garten-
platz von ſolcher Art, ſelbſt alle Verletzung der Symmetrie
ſowohl in der Geſtalt der Thiere, (z. B. einaͤugigt zu ſeyn)
oder der Gebaͤude, oder der Blumenſtuͤcke, misfaͤllt, weil
es zweckwidrig iſt, nicht allein praktiſch in Anſehung eines
beſtimmten Gebrauchs dieſer Dinge, ſondern auch fuͤr die
Beurtheilung in allerley moͤglicher Abſicht, welches der Fall
im Geſchmacksurtheile nicht iſt, welches, wenn es rein iſt,
E 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/133>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.