die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt ausgesprochen. Man wirbt um jedes andern Beystim- mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge- mein ist, auf welche man auch rechnen könnte, wenn man nur immer sicher wäre, daß der Fall unter jenem Grunde als Regel des Beyfalls richtig subsumirt wäre.
§. 20. Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein Geschmacksurtheil vorgiebt, ist die Jdee eines Gemeinsinnes.
Wenn Geschmacksurtheile (gleich den Erkenntnis- urtheilen) ein bestimmtes objectives Princip hätten, so würde der, so es nach dem letztern fället, auf unbedingte Nothwendigkeit seines Urtheils Anspruch machen. Wä- ren sie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen- geschmacks, so würde man sich gar keine Nothwendigkeit desselben in die Gedanken kommen lassen. Also müssen sie ein subjectives Princip haben, welches nur durch Ge- fühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder misfalle. Ein solches Prin- cip aber könnte nur als ein Gemeinsinn angesehen werden, der vom gemeinen Verstande, den man biswei- len auch Gemeinsinn (sensus communis) nennt, wesentlich unterschieden ist, indem letzterer nicht nach Gefühl, son- dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach ihnen, als nur dunkel vorgestellten Principien, urtheilt.
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt ausgeſprochen. Man wirbt um jedes andern Beyſtim- mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge- mein iſt, auf welche man auch rechnen koͤnnte, wenn man nur immer ſicher waͤre, daß der Fall unter jenem Grunde als Regel des Beyfalls richtig ſubſumirt waͤre.
§. 20. Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein Geſchmacksurtheil vorgiebt, iſt die Jdee eines Gemeinſinnes.
Wenn Geſchmacksurtheile (gleich den Erkenntnis- urtheilen) ein beſtimmtes objectives Princip haͤtten, ſo wuͤrde der, ſo es nach dem letztern faͤllet, auf unbedingte Nothwendigkeit ſeines Urtheils Anſpruch machen. Waͤ- ren ſie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen- geſchmacks, ſo wuͤrde man ſich gar keine Nothwendigkeit deſſelben in die Gedanken kommen laſſen. Alſo muͤſſen ſie ein ſubjectives Princip haben, welches nur durch Ge- fuͤhl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeinguͤltig beſtimme, was gefalle oder misfalle. Ein ſolches Prin- cip aber koͤnnte nur als ein Gemeinſinn angeſehen werden, der vom gemeinen Verſtande, den man biswei- len auch Gemeinſinn (ſenſus communis) nennt, weſentlich unterſchieden iſt, indem letzterer nicht nach Gefuͤhl, ſon- dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach ihnen, als nur dunkel vorgeſtellten Principien, urtheilt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0127"n="63"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/>
die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt<lb/>
ausgeſprochen. Man wirbt um jedes andern Beyſtim-<lb/>
mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge-<lb/>
mein iſt, auf welche man auch rechnen koͤnnte, wenn<lb/>
man nur immer ſicher waͤre, daß der Fall unter jenem<lb/>
Grunde als Regel des Beyfalls richtig ſubſumirt waͤre.</p></div><lb/><divn="5"><head><hirendition="#b">§. 20.<lb/>
Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein<lb/>
Geſchmacksurtheil vorgiebt, iſt die Jdee<lb/>
eines Gemeinſinnes.</hi></head><lb/><p>Wenn Geſchmacksurtheile (gleich den Erkenntnis-<lb/>
urtheilen) ein beſtimmtes objectives Princip haͤtten, ſo<lb/>
wuͤrde der, ſo es nach dem letztern faͤllet, auf unbedingte<lb/>
Nothwendigkeit ſeines Urtheils Anſpruch machen. Waͤ-<lb/>
ren ſie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen-<lb/>
geſchmacks, ſo wuͤrde man ſich gar keine Nothwendigkeit<lb/>
deſſelben in die Gedanken kommen laſſen. Alſo muͤſſen<lb/>ſie ein ſubjectives Princip haben, welches nur durch Ge-<lb/>
fuͤhl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeinguͤltig<lb/>
beſtimme, was gefalle oder misfalle. Ein ſolches Prin-<lb/>
cip aber koͤnnte nur als ein <hirendition="#fr">Gemeinſinn</hi> angeſehen<lb/>
werden, der vom gemeinen Verſtande, den man biswei-<lb/>
len auch Gemeinſinn (<hirendition="#aq">ſenſus communis</hi>) nennt, weſentlich<lb/>
unterſchieden iſt, indem letzterer nicht nach Gefuͤhl, ſon-<lb/>
dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach<lb/>
ihnen, als nur dunkel vorgeſtellten Principien, urtheilt.</p><lb/></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[63/0127]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt
ausgeſprochen. Man wirbt um jedes andern Beyſtim-
mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge-
mein iſt, auf welche man auch rechnen koͤnnte, wenn
man nur immer ſicher waͤre, daß der Fall unter jenem
Grunde als Regel des Beyfalls richtig ſubſumirt waͤre.
§. 20.
Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein
Geſchmacksurtheil vorgiebt, iſt die Jdee
eines Gemeinſinnes.
Wenn Geſchmacksurtheile (gleich den Erkenntnis-
urtheilen) ein beſtimmtes objectives Princip haͤtten, ſo
wuͤrde der, ſo es nach dem letztern faͤllet, auf unbedingte
Nothwendigkeit ſeines Urtheils Anſpruch machen. Waͤ-
ren ſie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen-
geſchmacks, ſo wuͤrde man ſich gar keine Nothwendigkeit
deſſelben in die Gedanken kommen laſſen. Alſo muͤſſen
ſie ein ſubjectives Princip haben, welches nur durch Ge-
fuͤhl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeinguͤltig
beſtimme, was gefalle oder misfalle. Ein ſolches Prin-
cip aber koͤnnte nur als ein Gemeinſinn angeſehen
werden, der vom gemeinen Verſtande, den man biswei-
len auch Gemeinſinn (ſenſus communis) nennt, weſentlich
unterſchieden iſt, indem letzterer nicht nach Gefuͤhl, ſon-
dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach
ihnen, als nur dunkel vorgeſtellten Principien, urtheilt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/127>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.