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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
als ein Weisser, der Chinese ein anderes, als der Euro-
päer. Mit dem Muster eines schönen Pferdes oder Hun-
des (von gewisser Race) würde es eben so gehen. --
Diese Normalidee ist nicht aus von der Erfahrung herge-
nommenen Proportionen, als bestimmte Regeln, abgelei-
tet: sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beur-
theilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen,
auf mancherley Weise verschiedenen, Anschauungen der
Jndividuen schwebende Bild für die ganze Gattung, wel-
ches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in der-
selben Species unterlegte, aber in keinem Einzelnen völ-
lig erreicht zu haben scheint. Sie ist keinesweges das
Urbild der Schönheit in dieser Gattung, sondern nur
die Form, welche die unnachlasliche Bedingung aller
Schönheit ausmacht, mithin blos die Richtigkeit in
Darstellung der Gattung. Sie ist, wie man Poly-
clets
berühmten Doryphorus nannte, die Regel
(eben dazu konnte auch Myrons Kuh in ihrer Gat-
tung gebraucht werden). Sie kann eben darum auch
nichts Specifisch-Characteristisches enthalten; denn
sonst wäre sie nicht Normalidee für die Gattung. Jhre
Darstellung gefällt auch nicht durch Schönheit, sondern
blos weil sie keiner Bedingung, unter der allein ein
Ding dieser Gattung schön seyn kann, widerspricht.
Die Darstellung ist blos schulgerecht *).

*) Man wird sinden, daß ein vollkommen regelmäßig Gesicht,
welches der Mahler ihm wohl zum Modell zu sitzen bitten

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
als ein Weiſſer, der Chineſe ein anderes, als der Euro-
paͤer. Mit dem Muſter eines ſchoͤnen Pferdes oder Hun-
des (von gewiſſer Race) wuͤrde es eben ſo gehen. —
Dieſe Normalidee iſt nicht aus von der Erfahrung herge-
nommenen Proportionen, als beſtimmte Regeln, abgelei-
tet: ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der Beur-
theilung moͤglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen,
auf mancherley Weiſe verſchiedenen, Anſchauungen der
Jndividuen ſchwebende Bild fuͤr die ganze Gattung, wel-
ches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in der-
ſelben Species unterlegte, aber in keinem Einzelnen voͤl-
lig erreicht zu haben ſcheint. Sie iſt keinesweges das
Urbild der Schoͤnheit in dieſer Gattung, ſondern nur
die Form, welche die unnachlasliche Bedingung aller
Schoͤnheit ausmacht, mithin blos die Richtigkeit in
Darſtellung der Gattung. Sie iſt, wie man Poly-
clets
beruͤhmten Doryphorus nannte, die Regel
(eben dazu konnte auch Myrons Kuh in ihrer Gat-
tung gebraucht werden). Sie kann eben darum auch
nichts Specifiſch-Characteriſtiſches enthalten; denn
ſonſt waͤre ſie nicht Normalidee fuͤr die Gattung. Jhre
Darſtellung gefaͤllt auch nicht durch Schoͤnheit, ſondern
blos weil ſie keiner Bedingung, unter der allein ein
Ding dieſer Gattung ſchoͤn ſeyn kann, widerſpricht.
Die Darſtellung iſt blos ſchulgerecht *).

*) Man wird ſinden, daß ein vollkommen regelmaͤßig Geſicht,
welches der Mahler ihm wohl zum Modell zu ſitzen bitten
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[58/0122] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. als ein Weiſſer, der Chineſe ein anderes, als der Euro- paͤer. Mit dem Muſter eines ſchoͤnen Pferdes oder Hun- des (von gewiſſer Race) wuͤrde es eben ſo gehen. — Dieſe Normalidee iſt nicht aus von der Erfahrung herge- nommenen Proportionen, als beſtimmte Regeln, abgelei- tet: ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der Beur- theilung moͤglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen, auf mancherley Weiſe verſchiedenen, Anſchauungen der Jndividuen ſchwebende Bild fuͤr die ganze Gattung, wel- ches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in der- ſelben Species unterlegte, aber in keinem Einzelnen voͤl- lig erreicht zu haben ſcheint. Sie iſt keinesweges das Urbild der Schoͤnheit in dieſer Gattung, ſondern nur die Form, welche die unnachlasliche Bedingung aller Schoͤnheit ausmacht, mithin blos die Richtigkeit in Darſtellung der Gattung. Sie iſt, wie man Poly- clets beruͤhmten Doryphorus nannte, die Regel (eben dazu konnte auch Myrons Kuh in ihrer Gat- tung gebraucht werden). Sie kann eben darum auch nichts Specifiſch-Characteriſtiſches enthalten; denn ſonſt waͤre ſie nicht Normalidee fuͤr die Gattung. Jhre Darſtellung gefaͤllt auch nicht durch Schoͤnheit, ſondern blos weil ſie keiner Bedingung, unter der allein ein Ding dieſer Gattung ſchoͤn ſeyn kann, widerſpricht. Die Darſtellung iſt blos ſchulgerecht *). *) Man wird ſinden, daß ein vollkommen regelmaͤßig Geſicht, welches der Mahler ihm wohl zum Modell zu ſitzen bitten

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/122>, abgerufen am 24.11.2024.