Das System aller philosophischen Erkentniß ist nun Philosophie. Man muß sie obiectiv nehmen, wenn man darunter das Urbild der Beurtheilung aller Versuche zu philosophiren versteht, welche iede subiective Philoso- phie zu beurtheilen dienen soll, deren Gebäude oft so man- nigfaltig und so veränderlich ist. Auf diese Weise ist Philosophie eine blosse Idee von einer möglichen Wissen- schaft, die nirgend in concreto gegeben ist, welcher man sich aber auf mancherley Wegen zu nähern sucht, so lan- ge, bis der einzige, sehr durch Sinnlichkeit verwachsene Fußsteig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild, so weit als es Menschen vergönnet ist, dem Urbilde gleich zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philoso- phie lernen; denn, wo ist sie, wer hat sie im Besitze und woran läßt sie sich erkennen? Man kan nur philosophi- ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol- gung ihrer allgemeinen Principien an gewissen vorhande- nen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, iene selbst in ihren Quellen zu un- tersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen.
Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur ein Schulbegriff, nemlich von einem System der Erkent- niß, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu haben. Es giebt aber noch einen Weltbegriff,(concep- tus cosmicus) der dieser Benennung iederzeit zum Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich-
sam
Methodenlehre III. Hauptſt.
Das Syſtem aller philoſophiſchen Erkentniß iſt nun Philoſophie. Man muß ſie obiectiv nehmen, wenn man darunter das Urbild der Beurtheilung aller Verſuche zu philoſophiren verſteht, welche iede ſubiective Philoſo- phie zu beurtheilen dienen ſoll, deren Gebaͤude oft ſo man- nigfaltig und ſo veraͤnderlich iſt. Auf dieſe Weiſe iſt Philoſophie eine bloſſe Idee von einer moͤglichen Wiſſen- ſchaft, die nirgend in concreto gegeben iſt, welcher man ſich aber auf mancherley Wegen zu naͤhern ſucht, ſo lan- ge, bis der einzige, ſehr durch Sinnlichkeit verwachſene Fußſteig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild, ſo weit als es Menſchen vergoͤnnet iſt, dem Urbilde gleich zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philoſo- phie lernen; denn, wo iſt ſie, wer hat ſie im Beſitze und woran laͤßt ſie ſich erkennen? Man kan nur philoſophi- ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol- gung ihrer allgemeinen Principien an gewiſſen vorhande- nen Verſuchen uͤben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, iene ſelbſt in ihren Quellen zu un- terſuchen und zu beſtaͤtigen, oder zu verwerfen.
Bis dahin iſt aber der Begriff von Philoſophie nur ein Schulbegriff, nemlich von einem Syſtem der Erkent- niß, die nur als Wiſſenſchaft geſucht wird, ohne etwas mehr als die ſyſtematiſche Einheit dieſes Wiſſens, mithin die logiſche Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu haben. Es giebt aber noch einen Weltbegriff,(concep- tus cosmicus) der dieſer Benennung iederzeit zum Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich-
ſam
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0868"n="838"/><fwplace="top"type="header">Methodenlehre <hirendition="#aq">III.</hi> Hauptſt.</fw><lb/><p>Das Syſtem aller philoſophiſchen Erkentniß iſt nun<lb/><hirendition="#fr">Philoſophie</hi>. Man muß ſie obiectiv nehmen, wenn man<lb/>
darunter das Urbild der Beurtheilung aller Verſuche<lb/>
zu philoſophiren verſteht, welche iede ſubiective Philoſo-<lb/>
phie zu beurtheilen dienen ſoll, deren Gebaͤude oft ſo man-<lb/>
nigfaltig und ſo veraͤnderlich iſt. Auf dieſe Weiſe iſt<lb/>
Philoſophie eine bloſſe Idee von einer moͤglichen Wiſſen-<lb/>ſchaft, die nirgend <hirendition="#aq">in concreto</hi> gegeben iſt, welcher man<lb/>ſich aber auf mancherley Wegen zu naͤhern ſucht, ſo lan-<lb/>
ge, bis der einzige, ſehr durch Sinnlichkeit verwachſene<lb/>
Fußſteig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild,<lb/>ſo weit als es Menſchen vergoͤnnet iſt, dem Urbilde gleich<lb/>
zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philoſo-<lb/>
phie lernen; denn, wo iſt ſie, wer hat ſie im Beſitze und<lb/>
woran laͤßt ſie ſich erkennen? Man kan nur philoſophi-<lb/>
ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol-<lb/>
gung ihrer allgemeinen Principien an gewiſſen vorhande-<lb/>
nen Verſuchen uͤben, doch immer mit Vorbehalt des<lb/>
Rechts der Vernunft, iene ſelbſt in ihren Quellen zu un-<lb/>
terſuchen und zu beſtaͤtigen, oder zu verwerfen.</p><lb/><p>Bis dahin iſt aber der Begriff von Philoſophie nur<lb/>
ein <hirendition="#fr">Schulbegriff,</hi> nemlich von einem Syſtem der Erkent-<lb/>
niß, die nur als Wiſſenſchaft geſucht wird, ohne etwas<lb/>
mehr als die ſyſtematiſche Einheit dieſes Wiſſens, mithin<lb/>
die <hirendition="#fr">logiſche</hi> Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu<lb/>
haben. Es giebt aber noch einen <hirendition="#fr">Weltbegriff,</hi><hirendition="#aq">(concep-<lb/>
tus cosmicus)</hi> der dieſer Benennung iederzeit zum<lb/>
Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſam</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[838/0868]
Methodenlehre III. Hauptſt.
Das Syſtem aller philoſophiſchen Erkentniß iſt nun
Philoſophie. Man muß ſie obiectiv nehmen, wenn man
darunter das Urbild der Beurtheilung aller Verſuche
zu philoſophiren verſteht, welche iede ſubiective Philoſo-
phie zu beurtheilen dienen ſoll, deren Gebaͤude oft ſo man-
nigfaltig und ſo veraͤnderlich iſt. Auf dieſe Weiſe iſt
Philoſophie eine bloſſe Idee von einer moͤglichen Wiſſen-
ſchaft, die nirgend in concreto gegeben iſt, welcher man
ſich aber auf mancherley Wegen zu naͤhern ſucht, ſo lan-
ge, bis der einzige, ſehr durch Sinnlichkeit verwachſene
Fußſteig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild,
ſo weit als es Menſchen vergoͤnnet iſt, dem Urbilde gleich
zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philoſo-
phie lernen; denn, wo iſt ſie, wer hat ſie im Beſitze und
woran laͤßt ſie ſich erkennen? Man kan nur philoſophi-
ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol-
gung ihrer allgemeinen Principien an gewiſſen vorhande-
nen Verſuchen uͤben, doch immer mit Vorbehalt des
Rechts der Vernunft, iene ſelbſt in ihren Quellen zu un-
terſuchen und zu beſtaͤtigen, oder zu verwerfen.
Bis dahin iſt aber der Begriff von Philoſophie nur
ein Schulbegriff, nemlich von einem Syſtem der Erkent-
niß, die nur als Wiſſenſchaft geſucht wird, ohne etwas
mehr als die ſyſtematiſche Einheit dieſes Wiſſens, mithin
die logiſche Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu
haben. Es giebt aber noch einen Weltbegriff, (concep-
tus cosmicus) der dieſer Benennung iederzeit zum
Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich-
ſam
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 838. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/868>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.