ben, erfinden. Vielmehr bin ich gewiß, daß dieses nie- mals geschehen werde. Denn, wo will die Vernunft den Grund zu solchen synthetischen Behauptungen, die sich nicht auf Gegenstände der Erfahrung und deren innerer Möglichkeit beziehen, hernehmen? Aber es ist auch apo- dictisch gewiß, daß niemals irgend ein Mensch auftreten werde, der das Gegentheil mit dem mindesten Scheine, geschweige dogmatisch behaupten könne. Denn, weil er dieses doch blos durch reine Vernunft darthun könte, so müßte er es unternehmen, zu beweisen: daß ein höchstes Wesen, daß das in uns denkende Subiect, als reine In- telligenz, unmöglich sey. Wo will er aber die Kentnisse hernehmen, die ihn, von Dingen über alle mögliche Er- fahrung hinaus so synthetisch zu urtheilen, berechtigten. Wir können also darüber ganz unbekümmert seyn: daß uns iemand das Gegentheil einstens beweisen werde, daß wir darum eben nicht nöthig haben, auf schulgerechte Be- weise zu sinnen, sondern immerhin dieienige Sätze anneh- men können, welche mit dem speculativen Interesse unse- rer Vernunft im empirischen Gebrauch ganz wol zusam- menhängen und überdem, es mit dem practischen Inter- esse zu vereinigen die einzige Mittel sind. Vor den Gegner (der hier nicht blos als Critiker betrachtet werden muß), haben wir unser non liquet in Bereitschaft, wel- ches ihn unfehlbar verwirren muß, indessen daß wir die Retorsion desselben auf uns nicht weigeren, indem wir die subiective Maxime der Vernunft beständig im Rückhalte
haben,
Methodenlehre I. Hauptſt. II. Abſch.
ben, erfinden. Vielmehr bin ich gewiß, daß dieſes nie- mals geſchehen werde. Denn, wo will die Vernunft den Grund zu ſolchen ſynthetiſchen Behauptungen, die ſich nicht auf Gegenſtaͤnde der Erfahrung und deren innerer Moͤglichkeit beziehen, hernehmen? Aber es iſt auch apo- dictiſch gewiß, daß niemals irgend ein Menſch auftreten werde, der das Gegentheil mit dem mindeſten Scheine, geſchweige dogmatiſch behaupten koͤnne. Denn, weil er dieſes doch blos durch reine Vernunft darthun koͤnte, ſo muͤßte er es unternehmen, zu beweiſen: daß ein hoͤchſtes Weſen, daß das in uns denkende Subiect, als reine In- telligenz, unmoͤglich ſey. Wo will er aber die Kentniſſe hernehmen, die ihn, von Dingen uͤber alle moͤgliche Er- fahrung hinaus ſo ſynthetiſch zu urtheilen, berechtigten. Wir koͤnnen alſo daruͤber ganz unbekuͤmmert ſeyn: daß uns iemand das Gegentheil einſtens beweiſen werde, daß wir darum eben nicht noͤthig haben, auf ſchulgerechte Be- weiſe zu ſinnen, ſondern immerhin dieienige Saͤtze anneh- men koͤnnen, welche mit dem ſpeculativen Intereſſe unſe- rer Vernunft im empiriſchen Gebrauch ganz wol zuſam- menhaͤngen und uͤberdem, es mit dem practiſchen Inter- eſſe zu vereinigen die einzige Mittel ſind. Vor den Gegner (der hier nicht blos als Critiker betrachtet werden muß), haben wir unſer non liquet in Bereitſchaft, wel- ches ihn unfehlbar verwirren muß, indeſſen daß wir die Retorſion deſſelben auf uns nicht weigeren, indem wir die ſubiective Maxime der Vernunft beſtaͤndig im Ruͤckhalte
haben,
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Methodenlehre I. Hauptſt. II. Abſch.
ben, erfinden. Vielmehr bin ich gewiß, daß dieſes nie-
mals geſchehen werde. Denn, wo will die Vernunft den
Grund zu ſolchen ſynthetiſchen Behauptungen, die ſich
nicht auf Gegenſtaͤnde der Erfahrung und deren innerer
Moͤglichkeit beziehen, hernehmen? Aber es iſt auch apo-
dictiſch gewiß, daß niemals irgend ein Menſch auftreten
werde, der das Gegentheil mit dem mindeſten Scheine,
geſchweige dogmatiſch behaupten koͤnne. Denn, weil er
dieſes doch blos durch reine Vernunft darthun koͤnte, ſo
muͤßte er es unternehmen, zu beweiſen: daß ein hoͤchſtes
Weſen, daß das in uns denkende Subiect, als reine In-
telligenz, unmoͤglich ſey. Wo will er aber die Kentniſſe
hernehmen, die ihn, von Dingen uͤber alle moͤgliche Er-
fahrung hinaus ſo ſynthetiſch zu urtheilen, berechtigten.
Wir koͤnnen alſo daruͤber ganz unbekuͤmmert ſeyn: daß
uns iemand das Gegentheil einſtens beweiſen werde, daß
wir darum eben nicht noͤthig haben, auf ſchulgerechte Be-
weiſe zu ſinnen, ſondern immerhin dieienige Saͤtze anneh-
men koͤnnen, welche mit dem ſpeculativen Intereſſe unſe-
rer Vernunft im empiriſchen Gebrauch ganz wol zuſam-
menhaͤngen und uͤberdem, es mit dem practiſchen Inter-
eſſe zu vereinigen die einzige Mittel ſind. Vor den
Gegner (der hier nicht blos als Critiker betrachtet werden
muß), haben wir unſer non liquet in Bereitſchaft, wel-
ches ihn unfehlbar verwirren muß, indeſſen daß wir die
Retorſion deſſelben auf uns nicht weigeren, indem wir die
ſubiective Maxime der Vernunft beſtaͤndig im Ruͤckhalte
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 742. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/772>, abgerufen am 23.11.2024.
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