lichkeiten, ia so gar sein veto, ohne Zurückhalten muß äussern können.
Ob nun aber gleich die Vernunft sich der Critik nie- mals verweigern kan, so hot sie doch nicht iederzeit Ursa- che, sie zu scheuen. Aber die reine Vernunft in ihrem dog- matischen (nicht mathematischen) Gebrauche ist sich nicht so sehr der genauesten Beobachtung ihrer obersten Gesetze bewust, daß sie nicht mit Blödigkeit, ia mit gänzlicher Able- gung alles angemaßten dogmatischen Ansehens, vor dem critischen Auge einer höheren und richterlichen Vernunft erscheinen müßte.
Ganz anders ist es bewandt, wenn sie es nicht mit der Censur des Richters, sondern den Ansprüchen ihres Mitbürgers zu thun hat und sich dagegen blos vertheidi- gen soll. Denn, da diese eben sowol dogmatisch seyn wol- len, obzwar im Verneinen, als iene im Beiahen: so findet eine Rechtfertigung kat' anthropon statt, die wider alle Beeinträchtigung sichert und einen titulirten Besitz verschaft, der keine fremde Anmassungen scheuen darf, ob er gleich selbst kat' aletheian nicht hinreichend bewiesen werden kan.
Unter dem polemischen Gebrauche der reinen Ver- nunft verstehe ich nun die Vertheidigung ihrer Sätze ge- gen die dogmatische Verneinungen derselben. Hier komt es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen nicht viel- leicht auch falsch seyn möchten, sondern nur, daß niemand das Gegentheil iemals mit apodictischer Gewißheit (ia auch
nur
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
lichkeiten, ia ſo gar ſein veto, ohne Zuruͤckhalten muß aͤuſſern koͤnnen.
Ob nun aber gleich die Vernunft ſich der Critik nie- mals verweigern kan, ſo hot ſie doch nicht iederzeit Urſa- che, ſie zu ſcheuen. Aber die reine Vernunft in ihrem dog- matiſchen (nicht mathematiſchen) Gebrauche iſt ſich nicht ſo ſehr der genaueſten Beobachtung ihrer oberſten Geſetze bewuſt, daß ſie nicht mit Bloͤdigkeit, ia mit gaͤnzlicher Able- gung alles angemaßten dogmatiſchen Anſehens, vor dem critiſchen Auge einer hoͤheren und richterlichen Vernunft erſcheinen muͤßte.
Ganz anders iſt es bewandt, wenn ſie es nicht mit der Cenſur des Richters, ſondern den Anſpruͤchen ihres Mitbuͤrgers zu thun hat und ſich dagegen blos vertheidi- gen ſoll. Denn, da dieſe eben ſowol dogmatiſch ſeyn wol- len, obzwar im Verneinen, als iene im Beiahen: ſo findet eine Rechtfertigung κατ’ ἀνϑρωπον ſtatt, die wider alle Beeintraͤchtigung ſichert und einen titulirten Beſitz verſchaft, der keine fremde Anmaſſungen ſcheuen darf, ob er gleich ſelbſt κατ’ αληϑειαν nicht hinreichend bewieſen werden kan.
Unter dem polemiſchen Gebrauche der reinen Ver- nunft verſtehe ich nun die Vertheidigung ihrer Saͤtze ge- gen die dogmatiſche Verneinungen derſelben. Hier komt es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen nicht viel- leicht auch falſch ſeyn moͤchten, ſondern nur, daß niemand das Gegentheil iemals mit apodictiſcher Gewißheit (ia auch
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
lichkeiten, ia ſo gar ſein veto, ohne Zuruͤckhalten muß
aͤuſſern koͤnnen.
Ob nun aber gleich die Vernunft ſich der Critik nie-
mals verweigern kan, ſo hot ſie doch nicht iederzeit Urſa-
che, ſie zu ſcheuen. Aber die reine Vernunft in ihrem dog-
matiſchen (nicht mathematiſchen) Gebrauche iſt ſich nicht
ſo ſehr der genaueſten Beobachtung ihrer oberſten Geſetze
bewuſt, daß ſie nicht mit Bloͤdigkeit, ia mit gaͤnzlicher Able-
gung alles angemaßten dogmatiſchen Anſehens, vor dem
critiſchen Auge einer hoͤheren und richterlichen Vernunft
erſcheinen muͤßte.
Ganz anders iſt es bewandt, wenn ſie es nicht mit
der Cenſur des Richters, ſondern den Anſpruͤchen ihres
Mitbuͤrgers zu thun hat und ſich dagegen blos vertheidi-
gen ſoll. Denn, da dieſe eben ſowol dogmatiſch ſeyn wol-
len, obzwar im Verneinen, als iene im Beiahen: ſo findet
eine Rechtfertigung κατ’ ἀνϑρωπον ſtatt, die wider alle
Beeintraͤchtigung ſichert und einen titulirten Beſitz verſchaft,
der keine fremde Anmaſſungen ſcheuen darf, ob er gleich
ſelbſt κατ’ αληϑειαν nicht hinreichend bewieſen werden
kan.
Unter dem polemiſchen Gebrauche der reinen Ver-
nunft verſtehe ich nun die Vertheidigung ihrer Saͤtze ge-
gen die dogmatiſche Verneinungen derſelben. Hier komt
es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen nicht viel-
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 739. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/769>, abgerufen am 23.11.2024.
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