fahrung einer continuirlichen Prüfung unterworfen werden, imgleichen auch nicht in der Mathematik, wo ihre Begriffe an der reinen Anschauung so fort in concreto dargestellet werden müssen, und iedes Ungegründete und Willkührli- che dadurch alsbald offenbar wird. Wo aber weder em- pirische noch reine Anschauung die Vernunft in einem sicht- baren Gleise halten, nemlich in ihrem transscendentalen Gebrauche, nach blossen Begriffen, da bedarf sie so gar sehr einer Disciplin, die ihren Hang zur Erweiterung, über die enge Gränzen möglicher Erfahrung, bän- dige, und sie von Ausschweifung und Irrthum abhalte, daß auch die ganze Philosophie der reinen Vernunft blos mit diesem negativen Nutzen zu thun hat. Einzelnen Verirrungen kan durch Censur und den Ursachen dersel- ben durch Critik abgeholfen werden. Wo aber, wie in der reinen Vernunft, ein ganzes System von Täuschungen und Blendwerken angetroffen wird, die unter sich wol ver- bunden und unter gemeinschaftlichen Principien vereinigt sind, da scheint eine ganz eigene und zwar negative Gesetz- gebung erforderlich zu seyn, welche unter dem Nahmen ei- ner Disciplin aus der Natur der Vernunft und der Ge- genstände ihres reinen Gebrauchs gleichsam ein System der Vorsicht und Selbstprüfung errichte, vor welchem kein falscher vernünftelnder Schein bestehen kan, sondern sich sofort, unerachtet aller Gründe seiner Beschönigung, verra- then muß.
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc.
fahrung einer continuirlichen Pruͤfung unterworfen werden, imgleichen auch nicht in der Mathematik, wo ihre Begriffe an der reinen Anſchauung ſo fort in concreto dargeſtellet werden muͤſſen, und iedes Ungegruͤndete und Willkuͤhrli- che dadurch alsbald offenbar wird. Wo aber weder em- piriſche noch reine Anſchauung die Vernunft in einem ſicht- baren Gleiſe halten, nemlich in ihrem transſcendentalen Gebrauche, nach bloſſen Begriffen, da bedarf ſie ſo gar ſehr einer Diſciplin, die ihren Hang zur Erweiterung, uͤber die enge Graͤnzen moͤglicher Erfahrung, baͤn- dige, und ſie von Ausſchweifung und Irrthum abhalte, daß auch die ganze Philoſophie der reinen Vernunft blos mit dieſem negativen Nutzen zu thun hat. Einzelnen Verirrungen kan durch Cenſur und den Urſachen derſel- ben durch Critik abgeholfen werden. Wo aber, wie in der reinen Vernunft, ein ganzes Syſtem von Taͤuſchungen und Blendwerken angetroffen wird, die unter ſich wol ver- bunden und unter gemeinſchaftlichen Principien vereinigt ſind, da ſcheint eine ganz eigene und zwar negative Geſetz- gebung erforderlich zu ſeyn, welche unter dem Nahmen ei- ner Diſciplin aus der Natur der Vernunft und der Ge- genſtaͤnde ihres reinen Gebrauchs gleichſam ein Syſtem der Vorſicht und Selbſtpruͤfung errichte, vor welchem kein falſcher vernuͤnftelnder Schein beſtehen kan, ſondern ſich ſofort, unerachtet aller Gruͤnde ſeiner Beſchoͤnigung, verra- then muß.
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc.
fahrung einer continuirlichen Pruͤfung unterworfen werden,
imgleichen auch nicht in der Mathematik, wo ihre Begriffe
an der reinen Anſchauung ſo fort in concreto dargeſtellet
werden muͤſſen, und iedes Ungegruͤndete und Willkuͤhrli-
che dadurch alsbald offenbar wird. Wo aber weder em-
piriſche noch reine Anſchauung die Vernunft in einem ſicht-
baren Gleiſe halten, nemlich in ihrem transſcendentalen
Gebrauche, nach bloſſen Begriffen, da bedarf ſie ſo gar
ſehr einer Diſciplin, die ihren Hang zur Erweiterung,
uͤber die enge Graͤnzen moͤglicher Erfahrung, baͤn-
dige, und ſie von Ausſchweifung und Irrthum abhalte,
daß auch die ganze Philoſophie der reinen Vernunft blos
mit dieſem negativen Nutzen zu thun hat. Einzelnen
Verirrungen kan durch Cenſur und den Urſachen derſel-
ben durch Critik abgeholfen werden. Wo aber, wie in der
reinen Vernunft, ein ganzes Syſtem von Taͤuſchungen und
Blendwerken angetroffen wird, die unter ſich wol ver-
bunden und unter gemeinſchaftlichen Principien vereinigt
ſind, da ſcheint eine ganz eigene und zwar negative Geſetz-
gebung erforderlich zu ſeyn, welche unter dem Nahmen ei-
ner Diſciplin aus der Natur der Vernunft und der Ge-
genſtaͤnde ihres reinen Gebrauchs gleichſam ein Syſtem
der Vorſicht und Selbſtpruͤfung errichte, vor welchem kein
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 711. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/741>, abgerufen am 22.11.2024.
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