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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Die Disciplin der reinen Vernunft im dogm. etc.
an und es bedarf beinahe einer Apologie, um ihnen nur
Duldung und noch mehr, um ihnen Gunst und Hochschä-
tzung zu verschaffen.

Man kan zwar logisch alle Sätze, die man will,
negativ ausdrücken, in Ansehung des Inhalts aber unse-
rer Erkentniß überhaupt, ob sie durch ein Urtheil er-
weitert, oder beschränkt wird, haben die verneinende das
eigenthümliche Geschäfte, lediglich den Irrthum abzuhal-
ten
. Daher auch negative Sätze, welche eine falsche Er-
kentniß abhalten sollen, wo doch niemals ein Irrthum
möglich ist, zwar sehr wahr, aber doch leer, d. i. ihrem
Zwecke gar nicht angemessen und eben darum oft lächerlich
seyn. Wie der Satz ienes Schulredners: daß Alexander,
ohne Kriegsheer, keine Länder hätte erobern können.

Wo aber die Schranken unserer möglichen Erkent-
niß sehr enge, der Anreitz zum Urtheilen groß, der Schein,
der sich darbietet, sehr betrüglich und der Nachtheil aus
dem Irrthum erheblich ist, da hat das Negative der Un-
terweisung, welches blos dazu dient, um uns vor Irr-
thümer zu verwahren, noch mehr Wichtigkeit, als man-
che positive Belehrung, dadurch unser Erkentniß Zuwachs
bekommen könte. Man nennet den Zwang, wodurch
der beständige Hang von gewissen Regeln abzuweichen, ein-
geschränkt und endlich vertilget wird, die Disciplin. Sie
ist von der Cultur unterschieden, welche blos eine Fer-
tigkeit verschaffen soll, ohne eine andere, schon vorhande-
ne, dagegen aufzuheben. Zu der Bildung eines Talents,

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Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc.
an und es bedarf beinahe einer Apologie, um ihnen nur
Duldung und noch mehr, um ihnen Gunſt und Hochſchaͤ-
tzung zu verſchaffen.

Man kan zwar logiſch alle Saͤtze, die man will,
negativ ausdruͤcken, in Anſehung des Inhalts aber unſe-
rer Erkentniß uͤberhaupt, ob ſie durch ein Urtheil er-
weitert, oder beſchraͤnkt wird, haben die verneinende das
eigenthuͤmliche Geſchaͤfte, lediglich den Irrthum abzuhal-
ten
. Daher auch negative Saͤtze, welche eine falſche Er-
kentniß abhalten ſollen, wo doch niemals ein Irrthum
moͤglich iſt, zwar ſehr wahr, aber doch leer, d. i. ihrem
Zwecke gar nicht angemeſſen und eben darum oft laͤcherlich
ſeyn. Wie der Satz ienes Schulredners: daß Alexander,
ohne Kriegsheer, keine Laͤnder haͤtte erobern koͤnnen.

Wo aber die Schranken unſerer moͤglichen Erkent-
niß ſehr enge, der Anreitz zum Urtheilen groß, der Schein,
der ſich darbietet, ſehr betruͤglich und der Nachtheil aus
dem Irrthum erheblich iſt, da hat das Negative der Un-
terweiſung, welches blos dazu dient, um uns vor Irr-
thuͤmer zu verwahren, noch mehr Wichtigkeit, als man-
che poſitive Belehrung, dadurch unſer Erkentniß Zuwachs
bekommen koͤnte. Man nennet den Zwang, wodurch
der beſtaͤndige Hang von gewiſſen Regeln abzuweichen, ein-
geſchraͤnkt und endlich vertilget wird, die Diſciplin. Sie
iſt von der Cultur unterſchieden, welche blos eine Fer-
tigkeit verſchaffen ſoll, ohne eine andere, ſchon vorhande-
ne, dagegen aufzuheben. Zu der Bildung eines Talents,

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[709/0739] Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc. an und es bedarf beinahe einer Apologie, um ihnen nur Duldung und noch mehr, um ihnen Gunſt und Hochſchaͤ- tzung zu verſchaffen. Man kan zwar logiſch alle Saͤtze, die man will, negativ ausdruͤcken, in Anſehung des Inhalts aber unſe- rer Erkentniß uͤberhaupt, ob ſie durch ein Urtheil er- weitert, oder beſchraͤnkt wird, haben die verneinende das eigenthuͤmliche Geſchaͤfte, lediglich den Irrthum abzuhal- ten. Daher auch negative Saͤtze, welche eine falſche Er- kentniß abhalten ſollen, wo doch niemals ein Irrthum moͤglich iſt, zwar ſehr wahr, aber doch leer, d. i. ihrem Zwecke gar nicht angemeſſen und eben darum oft laͤcherlich ſeyn. Wie der Satz ienes Schulredners: daß Alexander, ohne Kriegsheer, keine Laͤnder haͤtte erobern koͤnnen. Wo aber die Schranken unſerer moͤglichen Erkent- niß ſehr enge, der Anreitz zum Urtheilen groß, der Schein, der ſich darbietet, ſehr betruͤglich und der Nachtheil aus dem Irrthum erheblich iſt, da hat das Negative der Un- terweiſung, welches blos dazu dient, um uns vor Irr- thuͤmer zu verwahren, noch mehr Wichtigkeit, als man- che poſitive Belehrung, dadurch unſer Erkentniß Zuwachs bekommen koͤnte. Man nennet den Zwang, wodurch der beſtaͤndige Hang von gewiſſen Regeln abzuweichen, ein- geſchraͤnkt und endlich vertilget wird, die Diſciplin. Sie iſt von der Cultur unterſchieden, welche blos eine Fer- tigkeit verſchaffen ſoll, ohne eine andere, ſchon vorhande- ne, dagegen aufzuheben. Zu der Bildung eines Talents, wel- Y y 3

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/739>, abgerufen am 22.11.2024.