reine Vernunft nichts übrig, als Natur überhaupt, und die Vollständigkeit der Bedingungen in derselben nach ir- gend einem Princip. Die absolute Totalität der Reihen dieser Bedingungen, in der Ableitung ihrer Glieder, ist eine Idee, die zwar im empirischen Gebrauche der Ver- nunft niemals völlig zu Stande kommen kan, aber doch zur Regel dient, wie wir in Ansehung derselben verfah- ren sollen, nemlich in der Erklärung gegebener Erscheinun- gen (im Zurückgehen oder Aufsteigen) so, als ob die Rei- he an sich unendlich wäre, d. i. in indefinitum, aber wo die Vernunft selbst als bestimmende Ursache betrachtet wird (in der Freiheit), also bey practischen Principien, als ob wir nicht ein Obiect der Sinne, sondern des rei- nen Verstandes vor uns hätten, wo die Bedingungen nicht mehr in der Reihe der Erscheinungen, sondern ausser der- selben gesezt werden können und die Reihe der Zustände angesehen werden kan, als ob sie schlechthin (durch eine intelligibele Ursache) angefangen würde, welches alles beweiset: daß die cosmologische Ideen nichts als regula- tive Principien und weit davon entfernt sind, gleichsam constitutiv, eine wirkliche Totalität solcher Reihen zu setzen. Das übrige kan man an seinem Orte unter der Antinomie der reinen Vernunft suchen.
Die dritte Idee der reinen Vernunft, welche eine blos relative Supposition eines Wesens enthält, als der einigen und allgnugsamen Ursache aller cosmologischen Reihen, ist der Vernunftbegriff von Gott. Den Gegenstand
die-
VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
reine Vernunft nichts uͤbrig, als Natur uͤberhaupt, und die Vollſtaͤndigkeit der Bedingungen in derſelben nach ir- gend einem Princip. Die abſolute Totalitaͤt der Reihen dieſer Bedingungen, in der Ableitung ihrer Glieder, iſt eine Idee, die zwar im empiriſchen Gebrauche der Ver- nunft niemals voͤllig zu Stande kommen kan, aber doch zur Regel dient, wie wir in Anſehung derſelben verfah- ren ſollen, nemlich in der Erklaͤrung gegebener Erſcheinun- gen (im Zuruͤckgehen oder Aufſteigen) ſo, als ob die Rei- he an ſich unendlich waͤre, d. i. in indefinitum, aber wo die Vernunft ſelbſt als beſtimmende Urſache betrachtet wird (in der Freiheit), alſo bey practiſchen Principien, als ob wir nicht ein Obiect der Sinne, ſondern des rei- nen Verſtandes vor uns haͤtten, wo die Bedingungen nicht mehr in der Reihe der Erſcheinungen, ſondern auſſer der- ſelben geſezt werden koͤnnen und die Reihe der Zuſtaͤnde angeſehen werden kan, als ob ſie ſchlechthin (durch eine intelligibele Urſache) angefangen wuͤrde, welches alles beweiſet: daß die cosmologiſche Ideen nichts als regula- tive Principien und weit davon entfernt ſind, gleichſam conſtitutiv, eine wirkliche Totalitaͤt ſolcher Reihen zu ſetzen. Das uͤbrige kan man an ſeinem Orte unter der Antinomie der reinen Vernunft ſuchen.
Die dritte Idee der reinen Vernunft, welche eine blos relative Suppoſition eines Weſens enthaͤlt, als der einigen und allgnugſamen Urſache aller cosmologiſchen Reihen, iſt der Vernunftbegriff von Gott. Den Gegenſtand
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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
reine Vernunft nichts uͤbrig, als Natur uͤberhaupt, und
die Vollſtaͤndigkeit der Bedingungen in derſelben nach ir-
gend einem Princip. Die abſolute Totalitaͤt der Reihen
dieſer Bedingungen, in der Ableitung ihrer Glieder, iſt
eine Idee, die zwar im empiriſchen Gebrauche der Ver-
nunft niemals voͤllig zu Stande kommen kan, aber doch
zur Regel dient, wie wir in Anſehung derſelben verfah-
ren ſollen, nemlich in der Erklaͤrung gegebener Erſcheinun-
gen (im Zuruͤckgehen oder Aufſteigen) ſo, als ob die Rei-
he an ſich unendlich waͤre, d. i. in indefinitum, aber wo
die Vernunft ſelbſt als beſtimmende Urſache betrachtet
wird (in der Freiheit), alſo bey practiſchen Principien,
als ob wir nicht ein Obiect der Sinne, ſondern des rei-
nen Verſtandes vor uns haͤtten, wo die Bedingungen nicht
mehr in der Reihe der Erſcheinungen, ſondern auſſer der-
ſelben geſezt werden koͤnnen und die Reihe der Zuſtaͤnde
angeſehen werden kan, als ob ſie ſchlechthin (durch eine
intelligibele Urſache) angefangen wuͤrde, welches alles
beweiſet: daß die cosmologiſche Ideen nichts als regula-
tive Principien und weit davon entfernt ſind, gleichſam
conſtitutiv, eine wirkliche Totalitaͤt ſolcher Reihen zu ſetzen.
Das uͤbrige kan man an ſeinem Orte unter der Antinomie
der reinen Vernunft ſuchen.
Die dritte Idee der reinen Vernunft, welche eine
blos relative Suppoſition eines Weſens enthaͤlt, als der
einigen und allgnugſamen Urſache aller cosmologiſchen
Reihen, iſt der Vernunftbegriff von Gott. Den Gegenſtand
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/715>, abgerufen am 22.11.2024.
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