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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptst.

Wenn wir die iezt angeführte Principien ihrer Ord-
nung nach versetzen, um sie dem Erfahrungsgebrauch
gemäß zu stellen, so würden die Principien der systema-
tischen Einheit etwa so stehen: Mannigfaltigkeit, Ver-
wandschaft
und Einheit, iede derselben aber als Ideen
im höchsten Grade ihrer Vollständigkeit genommen. Die
Vernunft sezt die Verstandeserkentnisse voraus, die zunächst
auf Erfahrung angewandt werden, und sucht ihre Ein-
heit nach Ideen, die viel weiter geht, als Erfahrung
reichen kan. Die Verwandschaft des Mannigfaltigen,
unbeschadet seiner Verschiedenheit, unter einem Princip
der Einheit, betrift nicht blos die Dinge, sondern weit
mehr noch, die blosse Eigenschaften und Kräfte der Dinge.
Daher, wenn uns z. B. durch eine (noch nicht völlig be-
richtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als Kreisför-
mig gegeben ist und wir finden Verschiedenheiten, so ver-
muthen wir sie in demienigen, was den Cirkel nach einem
beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade,
zu einer dieser abweichenden Umläufe abändern kan, d. i.
die Bewegungen der Planeten, die nicht Cirkel sind, wer-
den etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe
kommen und fallen auf die Ellipse. Die Cometen zeigen
eine noch grössere Verschiedenheit ihrer Bahnen, da sie
(so weit Beobachtung reicht) nicht einmal im Kreise zurück-
kehren, allein wir rathen auf einen parabolischen Lauf,
der doch mit der Ellipsis verwandt ist und, wenn die lan-
ge Achse der lezteren sehr weit gestreckt ist, in allen unseren

Beob-
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptſt.

Wenn wir die iezt angefuͤhrte Principien ihrer Ord-
nung nach verſetzen, um ſie dem Erfahrungsgebrauch
gemaͤß zu ſtellen, ſo wuͤrden die Principien der ſyſtema-
tiſchen Einheit etwa ſo ſtehen: Mannigfaltigkeit, Ver-
wandſchaft
und Einheit, iede derſelben aber als Ideen
im hoͤchſten Grade ihrer Vollſtaͤndigkeit genommen. Die
Vernunft ſezt die Verſtandeserkentniſſe voraus, die zunaͤchſt
auf Erfahrung angewandt werden, und ſucht ihre Ein-
heit nach Ideen, die viel weiter geht, als Erfahrung
reichen kan. Die Verwandſchaft des Mannigfaltigen,
unbeſchadet ſeiner Verſchiedenheit, unter einem Princip
der Einheit, betrift nicht blos die Dinge, ſondern weit
mehr noch, die bloſſe Eigenſchaften und Kraͤfte der Dinge.
Daher, wenn uns z. B. durch eine (noch nicht voͤllig be-
richtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als Kreisfoͤr-
mig gegeben iſt und wir finden Verſchiedenheiten, ſo ver-
muthen wir ſie in demienigen, was den Cirkel nach einem
beſtaͤndigen Geſetze durch alle unendliche Zwiſchengrade,
zu einer dieſer abweichenden Umlaͤufe abaͤndern kan, d. i.
die Bewegungen der Planeten, die nicht Cirkel ſind, wer-
den etwa deſſen Eigenſchaften mehr oder weniger nahe
kommen und fallen auf die Ellipſe. Die Cometen zeigen
eine noch groͤſſere Verſchiedenheit ihrer Bahnen, da ſie
(ſo weit Beobachtung reicht) nicht einmal im Kreiſe zuruͤck-
kehren, allein wir rathen auf einen paraboliſchen Lauf,
der doch mit der Ellipſis verwandt iſt und, wenn die lan-
ge Achſe der lezteren ſehr weit geſtreckt iſt, in allen unſeren

Beob-
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[662/0692] Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptſt. Wenn wir die iezt angefuͤhrte Principien ihrer Ord- nung nach verſetzen, um ſie dem Erfahrungsgebrauch gemaͤß zu ſtellen, ſo wuͤrden die Principien der ſyſtema- tiſchen Einheit etwa ſo ſtehen: Mannigfaltigkeit, Ver- wandſchaft und Einheit, iede derſelben aber als Ideen im hoͤchſten Grade ihrer Vollſtaͤndigkeit genommen. Die Vernunft ſezt die Verſtandeserkentniſſe voraus, die zunaͤchſt auf Erfahrung angewandt werden, und ſucht ihre Ein- heit nach Ideen, die viel weiter geht, als Erfahrung reichen kan. Die Verwandſchaft des Mannigfaltigen, unbeſchadet ſeiner Verſchiedenheit, unter einem Princip der Einheit, betrift nicht blos die Dinge, ſondern weit mehr noch, die bloſſe Eigenſchaften und Kraͤfte der Dinge. Daher, wenn uns z. B. durch eine (noch nicht voͤllig be- richtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als Kreisfoͤr- mig gegeben iſt und wir finden Verſchiedenheiten, ſo ver- muthen wir ſie in demienigen, was den Cirkel nach einem beſtaͤndigen Geſetze durch alle unendliche Zwiſchengrade, zu einer dieſer abweichenden Umlaͤufe abaͤndern kan, d. i. die Bewegungen der Planeten, die nicht Cirkel ſind, wer- den etwa deſſen Eigenſchaften mehr oder weniger nahe kommen und fallen auf die Ellipſe. Die Cometen zeigen eine noch groͤſſere Verſchiedenheit ihrer Bahnen, da ſie (ſo weit Beobachtung reicht) nicht einmal im Kreiſe zuruͤck- kehren, allein wir rathen auf einen paraboliſchen Lauf, der doch mit der Ellipſis verwandt iſt und, wenn die lan- ge Achſe der lezteren ſehr weit geſtreckt iſt, in allen unſeren Beob-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/692>, abgerufen am 22.11.2024.