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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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VII. Absch. Critik aller speculativen Theologie.
oder verschiedene Aeusserung eines und desselben Grund-
stoffs, anzusehen. Die mancherley Arten von Erden (den
Stoff der Steine und sogar der Metalle) hat man noch
und nach auf drey, endlich auf zwey, zu bringen gesucht;
allein damit noch nicht zufrieden, können sie sich des Ge-
dankens nicht entschlagen, hinter diesen Varietäten den-
noch eine einzige Gattung, ia wol gar, zu diesen und
den Salzen, ein gemeinschaftliches Princip zu vermuthen.
Man möchte vielleicht glauben, dieses sey ein blos ökono-
mischer Handgriff der Vernunft, um sich so viel als mög-
lich Mühe zu ersparen und ein hypothetischer Versuch, der,
wenn er gelingt, dem vorausgesezten Erklärungsgrunde
eben durch diese Einheit Wahrscheinlichkeit giebt. Allein
eine solche selbstsüchtige Absicht ist sehr leicht von der Idee
zu unterscheiden, nach welcher iedermann voraussezt: diese
Vernunfteinheit sey der Natur selbst angemessen, und daß
die Vernunft hier nicht bettele, sondern gebiete, obgleich
ohne die Gränzen dieser Einheit bestimmen zu können.

Wäre unter den Erscheinungen, die sich uns darbie-
ten, eine so grosse Verschiedenheit, ich will nicht sagen der
Form (denn darin mögen sie einander ähnlich seyn), son-
dern dem Inhalte, d. i. der Mannigfaltigkeit existirender
Wesen nach, daß auch der allerschärfste menschliche Ver-
stand durch Vergleichung der einen mit der anderen nicht
die mindeste Aehnlichkeit ausfündig machen könte (ein Fall,
der sich wol denken läßt), so würde das logische Gesetz der
Gattungen ganz und gar nicht statt finden, und es würde

selbst

VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
oder verſchiedene Aeuſſerung eines und deſſelben Grund-
ſtoffs, anzuſehen. Die mancherley Arten von Erden (den
Stoff der Steine und ſogar der Metalle) hat man noch
und nach auf drey, endlich auf zwey, zu bringen geſucht;
allein damit noch nicht zufrieden, koͤnnen ſie ſich des Ge-
dankens nicht entſchlagen, hinter dieſen Varietaͤten den-
noch eine einzige Gattung, ia wol gar, zu dieſen und
den Salzen, ein gemeinſchaftliches Princip zu vermuthen.
Man moͤchte vielleicht glauben, dieſes ſey ein blos oͤkono-
miſcher Handgriff der Vernunft, um ſich ſo viel als moͤg-
lich Muͤhe zu erſparen und ein hypothetiſcher Verſuch, der,
wenn er gelingt, dem vorausgeſezten Erklaͤrungsgrunde
eben durch dieſe Einheit Wahrſcheinlichkeit giebt. Allein
eine ſolche ſelbſtſuͤchtige Abſicht iſt ſehr leicht von der Idee
zu unterſcheiden, nach welcher iedermann vorausſezt: dieſe
Vernunfteinheit ſey der Natur ſelbſt angemeſſen, und daß
die Vernunft hier nicht bettele, ſondern gebiete, obgleich
ohne die Graͤnzen dieſer Einheit beſtimmen zu koͤnnen.

Waͤre unter den Erſcheinungen, die ſich uns darbie-
ten, eine ſo groſſe Verſchiedenheit, ich will nicht ſagen der
Form (denn darin moͤgen ſie einander aͤhnlich ſeyn), ſon-
dern dem Inhalte, d. i. der Mannigfaltigkeit exiſtirender
Weſen nach, daß auch der allerſchaͤrfſte menſchliche Ver-
ſtand durch Vergleichung der einen mit der anderen nicht
die mindeſte Aehnlichkeit ausfuͤndig machen koͤnte (ein Fall,
der ſich wol denken laͤßt), ſo wuͤrde das logiſche Geſetz der
Gattungen ganz und gar nicht ſtatt finden, und es wuͤrde

ſelbſt
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[653/0683] VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie. oder verſchiedene Aeuſſerung eines und deſſelben Grund- ſtoffs, anzuſehen. Die mancherley Arten von Erden (den Stoff der Steine und ſogar der Metalle) hat man noch und nach auf drey, endlich auf zwey, zu bringen geſucht; allein damit noch nicht zufrieden, koͤnnen ſie ſich des Ge- dankens nicht entſchlagen, hinter dieſen Varietaͤten den- noch eine einzige Gattung, ia wol gar, zu dieſen und den Salzen, ein gemeinſchaftliches Princip zu vermuthen. Man moͤchte vielleicht glauben, dieſes ſey ein blos oͤkono- miſcher Handgriff der Vernunft, um ſich ſo viel als moͤg- lich Muͤhe zu erſparen und ein hypothetiſcher Verſuch, der, wenn er gelingt, dem vorausgeſezten Erklaͤrungsgrunde eben durch dieſe Einheit Wahrſcheinlichkeit giebt. Allein eine ſolche ſelbſtſuͤchtige Abſicht iſt ſehr leicht von der Idee zu unterſcheiden, nach welcher iedermann vorausſezt: dieſe Vernunfteinheit ſey der Natur ſelbſt angemeſſen, und daß die Vernunft hier nicht bettele, ſondern gebiete, obgleich ohne die Graͤnzen dieſer Einheit beſtimmen zu koͤnnen. Waͤre unter den Erſcheinungen, die ſich uns darbie- ten, eine ſo groſſe Verſchiedenheit, ich will nicht ſagen der Form (denn darin moͤgen ſie einander aͤhnlich ſeyn), ſon- dern dem Inhalte, d. i. der Mannigfaltigkeit exiſtirender Weſen nach, daß auch der allerſchaͤrfſte menſchliche Ver- ſtand durch Vergleichung der einen mit der anderen nicht die mindeſte Aehnlichkeit ausfuͤndig machen koͤnte (ein Fall, der ſich wol denken laͤßt), ſo wuͤrde das logiſche Geſetz der Gattungen ganz und gar nicht ſtatt finden, und es wuͤrde ſelbſt

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/683>, abgerufen am 22.11.2024.