Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptst.
schiedentliche Bestimmungen von wenigen Gattungen, die-
se aber von noch höheren Geschlechtern etc. behandelt wer-
den müssen, daß also eine gewisse systematische Einheit al-
ler möglichen empirschen Begriffe, so fern sie von höheren
und allgemeineren abgeleitet werden können, gesucht wer-
den müsse, ist eine Schulregel oder logisches Princip, ohne
welches kein Gebrauch der Vernunft statt fände, weil wir
nur so fern vom Allgemeinen aufs besondere schliessen kön-
nen, als allgemeine Eigenschaften der Dinge zum Grunde
gelegt werden, unter denen die besondere stehen.

Daß aber auch in der Natur eine solche Einhelligkeit
angetroffen werde, setzen die Philosophen in der bekanten
Schulregel voraus: daß man die Anfänge (Principien)
nicht ohne Noth vervielfältigen müsse (entia praeter ne-
cessitatem non esse multiplicanda)
. Dadurch wird ge-
sagt: daß die Natur der Dinge selbst zur Vernunft-
einheit Stoff darbiete und die anscheinende unendliche
Verschiedenheit dürfe uns nicht abhalten, hinter ihr Ein-
heit der Grundeigenschaften zu vermuthen, von welchen
die Mannigfaltigkeit nur durch mehrere Bestimmung abge-
leitet werden kan. Dieser Einheit, ob sie gleich eine blosse
Idee ist, ist man zu allen Zeiten so eifrig nachgegangen,
daß man eher Ursache gefunden, die Begierde nach ihr zu
mäßigen, als sie aufzumuntern. Es war schon viel: daß
die Scheidekünstler alle Salze auf zwey Hauptgattungen,
saure und laugenhafte, zurückführen konten, sie versu-
chen so gar auch diesen Unterschied bles als eine Varietät,

oder

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptſt.
ſchiedentliche Beſtimmungen von wenigen Gattungen, die-
ſe aber von noch hoͤheren Geſchlechtern ꝛc. behandelt wer-
den muͤſſen, daß alſo eine gewiſſe ſyſtematiſche Einheit al-
ler moͤglichen empirſchen Begriffe, ſo fern ſie von hoͤheren
und allgemeineren abgeleitet werden koͤnnen, geſucht wer-
den muͤſſe, iſt eine Schulregel oder logiſches Princip, ohne
welches kein Gebrauch der Vernunft ſtatt faͤnde, weil wir
nur ſo fern vom Allgemeinen aufs beſondere ſchlieſſen koͤn-
nen, als allgemeine Eigenſchaften der Dinge zum Grunde
gelegt werden, unter denen die beſondere ſtehen.

Daß aber auch in der Natur eine ſolche Einhelligkeit
angetroffen werde, ſetzen die Philoſophen in der bekanten
Schulregel voraus: daß man die Anfaͤnge (Principien)
nicht ohne Noth vervielfaͤltigen muͤſſe (entia praeter ne-
ceſſitatem non eſſe multiplicanda)
. Dadurch wird ge-
ſagt: daß die Natur der Dinge ſelbſt zur Vernunft-
einheit Stoff darbiete und die anſcheinende unendliche
Verſchiedenheit duͤrfe uns nicht abhalten, hinter ihr Ein-
heit der Grundeigenſchaften zu vermuthen, von welchen
die Mannigfaltigkeit nur durch mehrere Beſtimmung abge-
leitet werden kan. Dieſer Einheit, ob ſie gleich eine bloſſe
Idee iſt, iſt man zu allen Zeiten ſo eifrig nachgegangen,
daß man eher Urſache gefunden, die Begierde nach ihr zu
maͤßigen, als ſie aufzumuntern. Es war ſchon viel: daß
die Scheidekuͤnſtler alle Salze auf zwey Hauptgattungen,
ſaure und laugenhafte, zuruͤckfuͤhren konten, ſie verſu-
chen ſo gar auch dieſen Unterſchied bles als eine Varietaͤt,

oder
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0682" n="652"/><fw place="top" type="header">Elementarl. <hi rendition="#aq">II.</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> Abth. <hi rendition="#aq">II.</hi> Buch. <hi rendition="#aq">III.</hi> Haupt&#x017F;t.</fw><lb/>
&#x017F;chiedentliche Be&#x017F;timmungen von wenigen <hi rendition="#fr">Gattungen</hi>, die-<lb/>
&#x017F;e aber von noch ho&#x0364;heren <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;chlechtern</hi> &#xA75B;c. behandelt wer-<lb/>
den mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, daß al&#x017F;o eine gewi&#x017F;&#x017F;e &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Einheit al-<lb/>
ler mo&#x0364;glichen empir&#x017F;chen <hi rendition="#fr">Begriffe</hi>, &#x017F;o fern &#x017F;ie von ho&#x0364;heren<lb/>
und allgemeineren abgeleitet werden ko&#x0364;nnen, ge&#x017F;ucht wer-<lb/>
den mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, i&#x017F;t eine Schulregel oder logi&#x017F;ches Princip, ohne<lb/>
welches kein Gebrauch der Vernunft &#x017F;tatt fa&#x0364;nde, weil wir<lb/>
nur &#x017F;o fern vom Allgemeinen aufs be&#x017F;ondere &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;n-<lb/>
nen, als allgemeine Eigen&#x017F;chaften der Dinge zum Grunde<lb/>
gelegt werden, unter denen die be&#x017F;ondere &#x017F;tehen.</p><lb/>
                        <p>Daß aber auch in der Natur eine &#x017F;olche Einhelligkeit<lb/>
angetroffen werde, &#x017F;etzen die Philo&#x017F;ophen in der bekanten<lb/>
Schulregel voraus: daß man die Anfa&#x0364;nge (Principien)<lb/>
nicht ohne Noth vervielfa&#x0364;ltigen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#aq">(entia praeter ne-<lb/>
ce&#x017F;&#x017F;itatem non e&#x017F;&#x017F;e multiplicanda)</hi>. Dadurch wird ge-<lb/>
&#x017F;agt: daß die Natur der Dinge &#x017F;elb&#x017F;t zur Vernunft-<lb/>
einheit Stoff darbiete und die an&#x017F;cheinende unendliche<lb/>
Ver&#x017F;chiedenheit du&#x0364;rfe uns nicht abhalten, hinter ihr Ein-<lb/>
heit der Grundeigen&#x017F;chaften zu vermuthen, von welchen<lb/>
die Mannigfaltigkeit nur durch mehrere Be&#x017F;timmung abge-<lb/>
leitet werden kan. Die&#x017F;er Einheit, ob &#x017F;ie gleich eine blo&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Idee i&#x017F;t, i&#x017F;t man zu allen Zeiten &#x017F;o eifrig nachgegangen,<lb/>
daß man eher Ur&#x017F;ache gefunden, die Begierde nach ihr zu<lb/>
ma&#x0364;ßigen, als &#x017F;ie aufzumuntern. Es war &#x017F;chon viel: daß<lb/>
die Scheideku&#x0364;n&#x017F;tler alle Salze auf zwey Hauptgattungen,<lb/>
&#x017F;aure und laugenhafte, zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hren konten, &#x017F;ie ver&#x017F;u-<lb/>
chen &#x017F;o gar auch die&#x017F;en Unter&#x017F;chied bles als eine Varieta&#x0364;t,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">oder</fw><lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[652/0682] Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptſt. ſchiedentliche Beſtimmungen von wenigen Gattungen, die- ſe aber von noch hoͤheren Geſchlechtern ꝛc. behandelt wer- den muͤſſen, daß alſo eine gewiſſe ſyſtematiſche Einheit al- ler moͤglichen empirſchen Begriffe, ſo fern ſie von hoͤheren und allgemeineren abgeleitet werden koͤnnen, geſucht wer- den muͤſſe, iſt eine Schulregel oder logiſches Princip, ohne welches kein Gebrauch der Vernunft ſtatt faͤnde, weil wir nur ſo fern vom Allgemeinen aufs beſondere ſchlieſſen koͤn- nen, als allgemeine Eigenſchaften der Dinge zum Grunde gelegt werden, unter denen die beſondere ſtehen. Daß aber auch in der Natur eine ſolche Einhelligkeit angetroffen werde, ſetzen die Philoſophen in der bekanten Schulregel voraus: daß man die Anfaͤnge (Principien) nicht ohne Noth vervielfaͤltigen muͤſſe (entia praeter ne- ceſſitatem non eſſe multiplicanda). Dadurch wird ge- ſagt: daß die Natur der Dinge ſelbſt zur Vernunft- einheit Stoff darbiete und die anſcheinende unendliche Verſchiedenheit duͤrfe uns nicht abhalten, hinter ihr Ein- heit der Grundeigenſchaften zu vermuthen, von welchen die Mannigfaltigkeit nur durch mehrere Beſtimmung abge- leitet werden kan. Dieſer Einheit, ob ſie gleich eine bloſſe Idee iſt, iſt man zu allen Zeiten ſo eifrig nachgegangen, daß man eher Urſache gefunden, die Begierde nach ihr zu maͤßigen, als ſie aufzumuntern. Es war ſchon viel: daß die Scheidekuͤnſtler alle Salze auf zwey Hauptgattungen, ſaure und laugenhafte, zuruͤckfuͤhren konten, ſie verſu- chen ſo gar auch dieſen Unterſchied bles als eine Varietaͤt, oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/682
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 652. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/682>, abgerufen am 16.07.2024.