Es ist nicht genug, das Verfahren unserer Vernunft und ihre Dialectik zu beschreiben, man muß auch die Quellen derselben zu entdecken suchen, um diesen Schein selbst, wie ein Phänomen des Verstandes, erklären zu können; denn das Ideal, wovon wir reden, ist auf einer natürlichen und nicht blos willkührlichen Idee gegründet. Daher frage ich: wie komt die Vernunft dazu, alle Mög- lichkeit der Dinge als abgeleitet von einer einzigen, die zum Grunde liegt, nemlich der der höchsten Realität, an- zusehen, und diese sodann, als in einem besondern Ur- wesen enthalten, vorauszusetzen?
Die Antwort bietet sich aus den Verhandlungen der transscendentalen Analytik von selbst dar. Die Mög- lichkeit der Gegenstände der Sinne ist ein Verhältniß der- selben zu unserm Denken, worin etwas (nemlich die empirische Form) a priori gedacht werden kan, dasienige aber, was die Materie ausmacht, die Realität in der Erscheinung, (was der Empfindung entspricht) gegeben seyn muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht und mithin seine Möglichkeit nicht vorgestellet werden könte. Nun kan ein Gegenstand der Sinne nur durchgängig be- stimt werden, wenn er mit allen Prädicaten der Erschei- nung verglichen und durch dieselbe beiahend, oder ver- neinend vorgestellet wird. Weil aber darin dasienige, was das Ding selbst (in der Erscheinung) ausmacht, nem- lich das Reale gegeben seyn muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht werden könte, dasienige aber, worin
das
O o 3
II. Abſchn. Vom transſcend. Ideale.
Es iſt nicht genug, das Verfahren unſerer Vernunft und ihre Dialectik zu beſchreiben, man muß auch die Quellen derſelben zu entdecken ſuchen, um dieſen Schein ſelbſt, wie ein Phaͤnomen des Verſtandes, erklaͤren zu koͤnnen; denn das Ideal, wovon wir reden, iſt auf einer natuͤrlichen und nicht blos willkuͤhrlichen Idee gegruͤndet. Daher frage ich: wie komt die Vernunft dazu, alle Moͤg- lichkeit der Dinge als abgeleitet von einer einzigen, die zum Grunde liegt, nemlich der der hoͤchſten Realitaͤt, an- zuſehen, und dieſe ſodann, als in einem beſondern Ur- weſen enthalten, vorauszuſetzen?
Die Antwort bietet ſich aus den Verhandlungen der transſcendentalen Analytik von ſelbſt dar. Die Moͤg- lichkeit der Gegenſtaͤnde der Sinne iſt ein Verhaͤltniß der- ſelben zu unſerm Denken, worin etwas (nemlich die empiriſche Form) a priori gedacht werden kan, dasienige aber, was die Materie ausmacht, die Realitaͤt in der Erſcheinung, (was der Empfindung entſpricht) gegeben ſeyn muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht und mithin ſeine Moͤglichkeit nicht vorgeſtellet werden koͤnte. Nun kan ein Gegenſtand der Sinne nur durchgaͤngig be- ſtimt werden, wenn er mit allen Praͤdicaten der Erſchei- nung verglichen und durch dieſelbe beiahend, oder ver- neinend vorgeſtellet wird. Weil aber darin dasienige, was das Ding ſelbſt (in der Erſcheinung) ausmacht, nem- lich das Reale gegeben ſeyn muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht werden koͤnte, dasienige aber, worin
das
O o 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><divn="8"><pbfacs="#f0611"n="581"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> Abſchn. Vom transſcend. Ideale.</fw><lb/><p>Es iſt nicht genug, das Verfahren unſerer Vernunft<lb/>
und ihre Dialectik zu beſchreiben, man muß auch die<lb/>
Quellen derſelben zu entdecken ſuchen, um dieſen Schein<lb/>ſelbſt, wie ein Phaͤnomen des Verſtandes, erklaͤren zu<lb/>
koͤnnen; denn das Ideal, wovon wir reden, iſt auf einer<lb/>
natuͤrlichen und nicht blos willkuͤhrlichen Idee gegruͤndet.<lb/>
Daher frage ich: wie komt die Vernunft dazu, alle Moͤg-<lb/>
lichkeit der Dinge als abgeleitet von einer einzigen, die<lb/>
zum Grunde liegt, nemlich der der hoͤchſten Realitaͤt, an-<lb/>
zuſehen, und dieſe ſodann, als in einem beſondern Ur-<lb/>
weſen enthalten, vorauszuſetzen?</p><lb/><p>Die Antwort bietet ſich aus den Verhandlungen<lb/>
der transſcendentalen Analytik von ſelbſt dar. Die Moͤg-<lb/>
lichkeit der Gegenſtaͤnde der Sinne iſt ein Verhaͤltniß der-<lb/>ſelben zu unſerm Denken, worin etwas (nemlich die<lb/>
empiriſche Form) <hirendition="#aq">a priori</hi> gedacht werden kan, dasienige<lb/>
aber, was die Materie ausmacht, die Realitaͤt in der<lb/>
Erſcheinung, (was der Empfindung entſpricht) gegeben<lb/>ſeyn muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht und<lb/>
mithin ſeine Moͤglichkeit nicht vorgeſtellet werden koͤnte.<lb/>
Nun kan ein Gegenſtand der Sinne nur durchgaͤngig be-<lb/>ſtimt werden, wenn er mit allen Praͤdicaten der Erſchei-<lb/>
nung verglichen und durch dieſelbe beiahend, oder ver-<lb/>
neinend vorgeſtellet wird. Weil aber darin dasienige,<lb/>
was das Ding ſelbſt (in der Erſcheinung) ausmacht, nem-<lb/>
lich das Reale gegeben ſeyn muß, ohne welches es auch<lb/>
gar nicht gedacht werden koͤnte, dasienige aber, worin<lb/><fwplace="bottom"type="sig">O o 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">das</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[581/0611]
II. Abſchn. Vom transſcend. Ideale.
Es iſt nicht genug, das Verfahren unſerer Vernunft
und ihre Dialectik zu beſchreiben, man muß auch die
Quellen derſelben zu entdecken ſuchen, um dieſen Schein
ſelbſt, wie ein Phaͤnomen des Verſtandes, erklaͤren zu
koͤnnen; denn das Ideal, wovon wir reden, iſt auf einer
natuͤrlichen und nicht blos willkuͤhrlichen Idee gegruͤndet.
Daher frage ich: wie komt die Vernunft dazu, alle Moͤg-
lichkeit der Dinge als abgeleitet von einer einzigen, die
zum Grunde liegt, nemlich der der hoͤchſten Realitaͤt, an-
zuſehen, und dieſe ſodann, als in einem beſondern Ur-
weſen enthalten, vorauszuſetzen?
Die Antwort bietet ſich aus den Verhandlungen
der transſcendentalen Analytik von ſelbſt dar. Die Moͤg-
lichkeit der Gegenſtaͤnde der Sinne iſt ein Verhaͤltniß der-
ſelben zu unſerm Denken, worin etwas (nemlich die
empiriſche Form) a priori gedacht werden kan, dasienige
aber, was die Materie ausmacht, die Realitaͤt in der
Erſcheinung, (was der Empfindung entſpricht) gegeben
ſeyn muß, ohne welches es auch gar nicht gedacht und
mithin ſeine Moͤglichkeit nicht vorgeſtellet werden koͤnte.
Nun kan ein Gegenſtand der Sinne nur durchgaͤngig be-
ſtimt werden, wenn er mit allen Praͤdicaten der Erſchei-
nung verglichen und durch dieſelbe beiahend, oder ver-
neinend vorgeſtellet wird. Weil aber darin dasienige,
was das Ding ſelbſt (in der Erſcheinung) ausmacht, nem-
lich das Reale gegeben ſeyn muß, ohne welches es auch
gar nicht gedacht werden koͤnte, dasienige aber, worin
das
O o 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/611>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.