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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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II. Absch. Vom transscend. Ideal.
einen blossen Mangel bedeutet und, wo diese allein gedacht
wird, die Aufhebung alles Dinges vorgestellt wird.

Nun kan sich niemand eine Verneinung bestimt den-
ken, ohne daß er die entgegengesezte Beiahung zum Grun-
de liegen habe. Der Blindgebohrne kan sich nicht die
mindeste Vorstellung von Finsterniß machen, weil er kei-
ne vom Lichte hat; der Wilde nicht von der Armuth, weil
er den Wolstand nicht kent*). Der Unwissende hat kei-
nen Begriff von seiner Unwissenheit, weil er keinen von
der Wissenschaft hat, u. s. w. Es sind also auch alle Be-
griffe der Negationen abgeleitet, und die Realitäten ent-
halten die Data und so zu sagen die Materie, oder den
transscendentalen Inhalt, zu der Möglichkeit und durch-
gängigen Bestimmung aller Dinge.

Wenn also der durchgängigen Bestimmung in un-
serer Vernunft ein transscendentales Substratum zum
Grunde gelegt wird, welches gleichsam den ganzen Vor-
rath des Stoffes, daher alle mögliche Prädicate der
Dinge genommen werden können, enthält, so ist dieses
Substratum nichts anders, als die Idee von einem All der

Rea-
*) Die Beobachtungen und Berechnungen der Sternkun-
diger haben uns viel bewundernswürdiges gelehrt, aber
das Wichtigste ist wol, daß sie uns den Abgrund der Un-
wissenheit aufgedekt haben, den die menschliche Ver-
nunft, ohne diese Kentnisse, sich niemals so groß hätte
vorstellen können, und worüber das Nachdenken eine grosse
Veränderung in der Bestimmung der Endabsichten unseres
Vernunftgebrauchs hervorbringen muß.

II. Abſch. Vom transſcend. Ideal.
einen bloſſen Mangel bedeutet und, wo dieſe allein gedacht
wird, die Aufhebung alles Dinges vorgeſtellt wird.

Nun kan ſich niemand eine Verneinung beſtimt den-
ken, ohne daß er die entgegengeſezte Beiahung zum Grun-
de liegen habe. Der Blindgebohrne kan ſich nicht die
mindeſte Vorſtellung von Finſterniß machen, weil er kei-
ne vom Lichte hat; der Wilde nicht von der Armuth, weil
er den Wolſtand nicht kent*). Der Unwiſſende hat kei-
nen Begriff von ſeiner Unwiſſenheit, weil er keinen von
der Wiſſenſchaft hat, u. ſ. w. Es ſind alſo auch alle Be-
griffe der Negationen abgeleitet, und die Realitaͤten ent-
halten die Data und ſo zu ſagen die Materie, oder den
transſcendentalen Inhalt, zu der Moͤglichkeit und durch-
gaͤngigen Beſtimmung aller Dinge.

Wenn alſo der durchgaͤngigen Beſtimmung in un-
ſerer Vernunft ein transſcendentales Subſtratum zum
Grunde gelegt wird, welches gleichſam den ganzen Vor-
rath des Stoffes, daher alle moͤgliche Praͤdicate der
Dinge genommen werden koͤnnen, enthaͤlt, ſo iſt dieſes
Subſtratum nichts anders, als die Idee von einem All der

Rea-
*) Die Beobachtungen und Berechnungen der Sternkun-
diger haben uns viel bewundernswuͤrdiges gelehrt, aber
das Wichtigſte iſt wol, daß ſie uns den Abgrund der Un-
wiſſenheit aufgedekt haben, den die menſchliche Ver-
nunft, ohne dieſe Kentniſſe, ſich niemals ſo groß haͤtte
vorſtellen koͤnnen, und woruͤber das Nachdenken eine groſſe
Veraͤnderung in der Beſtimmung der Endabſichten unſeres
Vernunftgebrauchs hervorbringen muß.
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[575/0605] II. Abſch. Vom transſcend. Ideal. einen bloſſen Mangel bedeutet und, wo dieſe allein gedacht wird, die Aufhebung alles Dinges vorgeſtellt wird. Nun kan ſich niemand eine Verneinung beſtimt den- ken, ohne daß er die entgegengeſezte Beiahung zum Grun- de liegen habe. Der Blindgebohrne kan ſich nicht die mindeſte Vorſtellung von Finſterniß machen, weil er kei- ne vom Lichte hat; der Wilde nicht von der Armuth, weil er den Wolſtand nicht kent *). Der Unwiſſende hat kei- nen Begriff von ſeiner Unwiſſenheit, weil er keinen von der Wiſſenſchaft hat, u. ſ. w. Es ſind alſo auch alle Be- griffe der Negationen abgeleitet, und die Realitaͤten ent- halten die Data und ſo zu ſagen die Materie, oder den transſcendentalen Inhalt, zu der Moͤglichkeit und durch- gaͤngigen Beſtimmung aller Dinge. Wenn alſo der durchgaͤngigen Beſtimmung in un- ſerer Vernunft ein transſcendentales Subſtratum zum Grunde gelegt wird, welches gleichſam den ganzen Vor- rath des Stoffes, daher alle moͤgliche Praͤdicate der Dinge genommen werden koͤnnen, enthaͤlt, ſo iſt dieſes Subſtratum nichts anders, als die Idee von einem All der Rea- *) Die Beobachtungen und Berechnungen der Sternkun- diger haben uns viel bewundernswuͤrdiges gelehrt, aber das Wichtigſte iſt wol, daß ſie uns den Abgrund der Un- wiſſenheit aufgedekt haben, den die menſchliche Ver- nunft, ohne dieſe Kentniſſe, ſich niemals ſo groß haͤtte vorſtellen koͤnnen, und woruͤber das Nachdenken eine groſſe Veraͤnderung in der Beſtimmung der Endabſichten unſeres Vernunftgebrauchs hervorbringen muß.

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/605>, abgerufen am 22.11.2024.