Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptst.
in seiner Art ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen. Das Ideal aber in einem Beispiele, d. i. in der Erscheinung, realisiren wollen, wie etwa den Weisen in einem Roman, ist unthunlich und hat überdem etwas widersinnisches und wenig erbauliches an sich, indem die natürliche Schranken, welche der Vollständigkeit in der Idee continuirlich Abbruch thun, alle Illusion in sol- chem Versuche unmöglich und dadurch das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer blossen Erdich- tung ähnlich machen.
So ist es mit dem Ideale der Vernunft bewandt, welches iederzeit auf bestimten Begriffen beruhen und zur Regel und Urbilde, es sey der Befolgung, oder Beurthei- lung, dienen muß. Ganz anders verhält es sich mit de- nen Geschöpfen der Einbildungskraft, darüber sich nie- mand erklären und einen verständlichen Begriff geben kan, gleichsam Monogrammen, die nur einzelne, obzwar nach keiner angeblichen Regel bestimte Züge sind, welche mehr eine im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam schwe- bende Zeichnung, als ein bestimtes Bild ausmachen, der- gleichen Mahler und Physiognomen in ihrem Kopfe zu ha- ben vorgeben und die ein nicht mitzutheilendes Schatten- bild ihrer Producte oder auch Beurtheilungen seyn sollen. Sie können, obzwar nur uneigentlich, Ideale der Sinn- lichkeit genant werden, weil sie das nicht erreichbare Muster möglicher empirischer Anschauungen seyn sollen und gleich-
wol
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptſt.
in ſeiner Art ganz vollſtaͤndig iſt, bedarf, um darnach den Grad und die Maͤngel des Unvollſtaͤndigen zu ſchaͤtzen und abzumeſſen. Das Ideal aber in einem Beiſpiele, d. i. in der Erſcheinung, realiſiren wollen, wie etwa den Weiſen in einem Roman, iſt unthunlich und hat uͤberdem etwas widerſinniſches und wenig erbauliches an ſich, indem die natuͤrliche Schranken, welche der Vollſtaͤndigkeit in der Idee continuirlich Abbruch thun, alle Illuſion in ſol- chem Verſuche unmoͤglich und dadurch das Gute, das in der Idee liegt, ſelbſt verdaͤchtig und einer bloſſen Erdich- tung aͤhnlich machen.
So iſt es mit dem Ideale der Vernunft bewandt, welches iederzeit auf beſtimten Begriffen beruhen und zur Regel und Urbilde, es ſey der Befolgung, oder Beurthei- lung, dienen muß. Ganz anders verhaͤlt es ſich mit de- nen Geſchoͤpfen der Einbildungskraft, daruͤber ſich nie- mand erklaͤren und einen verſtaͤndlichen Begriff geben kan, gleichſam Monogrammen, die nur einzelne, obzwar nach keiner angeblichen Regel beſtimte Zuͤge ſind, welche mehr eine im Mittel verſchiedener Erfahrungen gleichſam ſchwe- bende Zeichnung, als ein beſtimtes Bild ausmachen, der- gleichen Mahler und Phyſiognomen in ihrem Kopfe zu ha- ben vorgeben und die ein nicht mitzutheilendes Schatten- bild ihrer Producte oder auch Beurtheilungen ſeyn ſollen. Sie koͤnnen, obzwar nur uneigentlich, Ideale der Sinn- lichkeit genant werden, weil ſie das nicht erreichbare Muſter moͤglicher empiriſcher Anſchauungen ſeyn ſollen und gleich-
wol
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Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptſt.
in ſeiner Art ganz vollſtaͤndig iſt, bedarf, um darnach
den Grad und die Maͤngel des Unvollſtaͤndigen zu ſchaͤtzen
und abzumeſſen. Das Ideal aber in einem Beiſpiele,
d. i. in der Erſcheinung, realiſiren wollen, wie etwa den
Weiſen in einem Roman, iſt unthunlich und hat uͤberdem
etwas widerſinniſches und wenig erbauliches an ſich, indem
die natuͤrliche Schranken, welche der Vollſtaͤndigkeit in
der Idee continuirlich Abbruch thun, alle Illuſion in ſol-
chem Verſuche unmoͤglich und dadurch das Gute, das in
der Idee liegt, ſelbſt verdaͤchtig und einer bloſſen Erdich-
tung aͤhnlich machen.
So iſt es mit dem Ideale der Vernunft bewandt,
welches iederzeit auf beſtimten Begriffen beruhen und zur
Regel und Urbilde, es ſey der Befolgung, oder Beurthei-
lung, dienen muß. Ganz anders verhaͤlt es ſich mit de-
nen Geſchoͤpfen der Einbildungskraft, daruͤber ſich nie-
mand erklaͤren und einen verſtaͤndlichen Begriff geben kan,
gleichſam Monogrammen, die nur einzelne, obzwar nach
keiner angeblichen Regel beſtimte Zuͤge ſind, welche mehr
eine im Mittel verſchiedener Erfahrungen gleichſam ſchwe-
bende Zeichnung, als ein beſtimtes Bild ausmachen, der-
gleichen Mahler und Phyſiognomen in ihrem Kopfe zu ha-
ben vorgeben und die ein nicht mitzutheilendes Schatten-
bild ihrer Producte oder auch Beurtheilungen ſeyn ſollen.
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/600>, abgerufen am 22.11.2024.
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