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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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I. Absch. Von dem Ideal überhaupt.

Ohne uns aber so weit zu versteigen, müssen wir
gestehen: daß die menschliche Vernunft nicht allein Ideen,
sondern auch Ideale enthalte, die zwar nicht, wie die pla-
tonische, schöpferische, aber doch practische Kraft (als
regulative Principien) haben, und der Möglichkeit der
Vollkommenheit gewisser Handlungen zum Grunde liegen.
Moralische Begriffe sind nicht gänzlich reine Vernunftbe-
griffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust oder Unlust)
zum Grunde liegt. Gleichwol können sie in Ansehung des
Princips, wodurch die Vernunft der an sich gesetzlosen
Freiheit Schranken sezt, (also wenn man blos auf ihre
Form Acht hat) gar wol zum Beispiele reiner Vernunft-
begriffe dienen. Tugend und, mit ihr, menschliche Weis-
heit in ihrer ganzen Reinigkeit, sind Ideen. Aber der
Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch
der blos in Gedanken existirt, der aber mit der Idee der
Weisheit völlig congruiret. So wie die Idee die Regel
giebt, so dient das Ideal in solchem Falle zum Urbilde der
durchgängigen Bestimmung des Nachbildes und wir haben
kein anderes Richtmaaß unserer Handlungen, als das Ver-
halten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns
vergleichen, beurtheilen und dadurch uns bessern, ob-
gleich es niemals erreichen können. Diese Ideale, ob
man ihnen gleich nicht obiective Realität (Existenz) zuge-
stehen möchte, sind doch um deswillen nicht vor Hirnge-
spinste anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches Richt-
maaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was

in
N n 5
I. Abſch. Von dem Ideal uͤberhaupt.

Ohne uns aber ſo weit zu verſteigen, muͤſſen wir
geſtehen: daß die menſchliche Vernunft nicht allein Ideen,
ſondern auch Ideale enthalte, die zwar nicht, wie die pla-
toniſche, ſchoͤpferiſche, aber doch practiſche Kraft (als
regulative Principien) haben, und der Moͤglichkeit der
Vollkommenheit gewiſſer Handlungen zum Grunde liegen.
Moraliſche Begriffe ſind nicht gaͤnzlich reine Vernunftbe-
griffe, weil ihnen etwas Empiriſches (Luſt oder Unluſt)
zum Grunde liegt. Gleichwol koͤnnen ſie in Anſehung des
Princips, wodurch die Vernunft der an ſich geſetzloſen
Freiheit Schranken ſezt, (alſo wenn man blos auf ihre
Form Acht hat) gar wol zum Beiſpiele reiner Vernunft-
begriffe dienen. Tugend und, mit ihr, menſchliche Weis-
heit in ihrer ganzen Reinigkeit, ſind Ideen. Aber der
Weiſe (des Stoikers) iſt ein Ideal, d. i. ein Menſch
der blos in Gedanken exiſtirt, der aber mit der Idee der
Weisheit voͤllig congruiret. So wie die Idee die Regel
giebt, ſo dient das Ideal in ſolchem Falle zum Urbilde der
durchgaͤngigen Beſtimmung des Nachbildes und wir haben
kein anderes Richtmaaß unſerer Handlungen, als das Ver-
halten dieſes goͤttlichen Menſchen in uns, womit wir uns
vergleichen, beurtheilen und dadurch uns beſſern, ob-
gleich es niemals erreichen koͤnnen. Dieſe Ideale, ob
man ihnen gleich nicht obiective Realitaͤt (Exiſtenz) zuge-
ſtehen moͤchte, ſind doch um deswillen nicht vor Hirnge-
ſpinſte anzuſehen, ſondern geben ein unentbehrliches Richt-
maaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was

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[569/0599] I. Abſch. Von dem Ideal uͤberhaupt. Ohne uns aber ſo weit zu verſteigen, muͤſſen wir geſtehen: daß die menſchliche Vernunft nicht allein Ideen, ſondern auch Ideale enthalte, die zwar nicht, wie die pla- toniſche, ſchoͤpferiſche, aber doch practiſche Kraft (als regulative Principien) haben, und der Moͤglichkeit der Vollkommenheit gewiſſer Handlungen zum Grunde liegen. Moraliſche Begriffe ſind nicht gaͤnzlich reine Vernunftbe- griffe, weil ihnen etwas Empiriſches (Luſt oder Unluſt) zum Grunde liegt. Gleichwol koͤnnen ſie in Anſehung des Princips, wodurch die Vernunft der an ſich geſetzloſen Freiheit Schranken ſezt, (alſo wenn man blos auf ihre Form Acht hat) gar wol zum Beiſpiele reiner Vernunft- begriffe dienen. Tugend und, mit ihr, menſchliche Weis- heit in ihrer ganzen Reinigkeit, ſind Ideen. Aber der Weiſe (des Stoikers) iſt ein Ideal, d. i. ein Menſch der blos in Gedanken exiſtirt, der aber mit der Idee der Weisheit voͤllig congruiret. So wie die Idee die Regel giebt, ſo dient das Ideal in ſolchem Falle zum Urbilde der durchgaͤngigen Beſtimmung des Nachbildes und wir haben kein anderes Richtmaaß unſerer Handlungen, als das Ver- halten dieſes goͤttlichen Menſchen in uns, womit wir uns vergleichen, beurtheilen und dadurch uns beſſern, ob- gleich es niemals erreichen koͤnnen. Dieſe Ideale, ob man ihnen gleich nicht obiective Realitaͤt (Exiſtenz) zuge- ſtehen moͤchte, ſind doch um deswillen nicht vor Hirnge- ſpinſte anzuſehen, ſondern geben ein unentbehrliches Richt- maaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was in N n 5

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/599>, abgerufen am 22.11.2024.