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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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IX. Absch. Vom empir. Gebrauche des regul. etc.

Gesezt nun, man könte sagen: die Vernunft habe
Caussalität in Ansehung der Erscheinung; könte da wohl
die Handlung derselben frey heissen, da sie im empirischen
Character derselben (der Sinnesart) ganz genau bestimt
und nothwendig ist. Dieser ist wiederum im intelligibelen
Character (der Denkungsart) bestimt. Die leztere kennen wir
aber nicht, sondern bezeichnen sie durch Erscheinungen, welche
eigentlich nur die Sinnesart (empirischen Character) un-
mittelbar zu erkennen geben*). Die Handlung nun, so fern
sie der Denkungsart, als ihrer Ursache, beizumessen ist, er-
folgt dennoch daraus gar nicht nach empirischen Gesetzen,
d. i. so, daß die Bedingungen der reinen Vernunft, son-
dern nur so, daß deren Wirkungen in der Erscheinung des
inneren Sinnes vorhergehen. Die reine Vernunft, als
ein blos intelligibeles Vermögen, ist der Zeitform, und
mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unter-
worfen. Die Caussalität der Vernunft im intelligibelen
Character entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer
gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen. Denn

sonst
*) Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst
und Schuld) bleibt uns daher, selbst die, unseres eigenen
Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen
können nur auf den empirischen Character bezogen wer-
den. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit,
wie viel der blossen Natur und dem unverschuldeten Feh-
ler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffen-
heit (merito fortunae) zuzuschreiben sey, kan niemand
ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtig-
keit richten.
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IX. Abſch. Vom empir. Gebrauche des regul. ꝛc.

Geſezt nun, man koͤnte ſagen: die Vernunft habe
Cauſſalitaͤt in Anſehung der Erſcheinung; koͤnte da wohl
die Handlung derſelben frey heiſſen, da ſie im empiriſchen
Character derſelben (der Sinnesart) ganz genau beſtimt
und nothwendig iſt. Dieſer iſt wiederum im intelligibelen
Character (der Denkungsart) beſtimt. Die leztere kennen wir
aber nicht, ſondern bezeichnen ſie durch Erſcheinungen, welche
eigentlich nur die Sinnesart (empiriſchen Character) un-
mittelbar zu erkennen geben*). Die Handlung nun, ſo fern
ſie der Denkungsart, als ihrer Urſache, beizumeſſen iſt, er-
folgt dennoch daraus gar nicht nach empiriſchen Geſetzen,
d. i. ſo, daß die Bedingungen der reinen Vernunft, ſon-
dern nur ſo, daß deren Wirkungen in der Erſcheinung des
inneren Sinnes vorhergehen. Die reine Vernunft, als
ein blos intelligibeles Vermoͤgen, iſt der Zeitform, und
mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unter-
worfen. Die Cauſſalitaͤt der Vernunft im intelligibelen
Character entſteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer
gewiſſen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen. Denn

ſonſt
*) Die eigentliche Moralitaͤt der Handlungen (Verdienſt
und Schuld) bleibt uns daher, ſelbſt die, unſeres eigenen
Verhaltens, gaͤnzlich verborgen. Unſere Zurechnungen
koͤnnen nur auf den empiriſchen Character bezogen wer-
den. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit,
wie viel der bloſſen Natur und dem unverſchuldeten Feh-
ler des Temperaments, oder deſſen gluͤcklicher Beſchaffen-
heit (merito fortunae) zuzuſchreiben ſey, kan niemand
ergruͤnden, und daher auch nicht nach voͤlliger Gerechtig-
keit richten.
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[551/0581] IX. Abſch. Vom empir. Gebrauche des regul. ꝛc. Geſezt nun, man koͤnte ſagen: die Vernunft habe Cauſſalitaͤt in Anſehung der Erſcheinung; koͤnte da wohl die Handlung derſelben frey heiſſen, da ſie im empiriſchen Character derſelben (der Sinnesart) ganz genau beſtimt und nothwendig iſt. Dieſer iſt wiederum im intelligibelen Character (der Denkungsart) beſtimt. Die leztere kennen wir aber nicht, ſondern bezeichnen ſie durch Erſcheinungen, welche eigentlich nur die Sinnesart (empiriſchen Character) un- mittelbar zu erkennen geben *). Die Handlung nun, ſo fern ſie der Denkungsart, als ihrer Urſache, beizumeſſen iſt, er- folgt dennoch daraus gar nicht nach empiriſchen Geſetzen, d. i. ſo, daß die Bedingungen der reinen Vernunft, ſon- dern nur ſo, daß deren Wirkungen in der Erſcheinung des inneren Sinnes vorhergehen. Die reine Vernunft, als ein blos intelligibeles Vermoͤgen, iſt der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unter- worfen. Die Cauſſalitaͤt der Vernunft im intelligibelen Character entſteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewiſſen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen. Denn ſonſt *) Die eigentliche Moralitaͤt der Handlungen (Verdienſt und Schuld) bleibt uns daher, ſelbſt die, unſeres eigenen Verhaltens, gaͤnzlich verborgen. Unſere Zurechnungen koͤnnen nur auf den empiriſchen Character bezogen wer- den. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloſſen Natur und dem unverſchuldeten Feh- ler des Temperaments, oder deſſen gluͤcklicher Beſchaffen- heit (merito fortunae) zuzuſchreiben ſey, kan niemand ergruͤnden, und daher auch nicht nach voͤlliger Gerechtig- keit richten. M m 4

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/581>, abgerufen am 22.11.2024.