2) Der Raum ist eine nothwendige Vorstellung, a priori, die allen äusseren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kan sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sey, ob man sich gleich ganz wohl denken kan, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wir[d] also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung an- gesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die nothwendi- ger Weise äusseren Erscheinungen zum Grunde liegt.
3) Auf diese Nothwendigkeit a priori gründet sich die apodictische Gewißheit aller geometrischen Grundsätze, und die Möglichkeit ihrer Constructionen a priori. Wäre nemlich diese Vorstellung des Raums ein a posteriori er- worbener Begriff, der aus der allgemeinen äusseren Er- fahrung geschöpft wäre, so würden die ersten Grundsätze der mathematischen Bestimmung nichts als Wahrnehmun- gen seyn. Sie hätten also alle Zufälligkeit der Wahrneh- mung, und es wäre eben nicht nothwendig, daß zwischen zween Puncten nur eine gerade Linie sey, sondern die Erfahrung würde es so iederzeit lehren. Was von der Erfahrung entlehnt ist, hat auch nur comparative Allge- meinheit, nemlich durch Induction. Man würde also nur sagen können, so viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden worden, der mehr als drey Ab- messungen hätte.
4) Der Raum ist kein discursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge
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Elementarlehre. I. Th. Transſc. Aeſthetik.
2) Der Raum iſt eine nothwendige Vorſtellung, a priori, die allen aͤuſſeren Anſchauungen zum Grunde liegt. Man kan ſich niemals eine Vorſtellung davon machen, daß kein Raum ſey, ob man ſich gleich ganz wohl denken kan, daß keine Gegenſtaͤnde darin angetroffen werden. Er wir[d] alſo als die Bedingung der Moͤglichkeit der Erſcheinungen, und nicht als eine von ihnen abhaͤngende Beſtimmung an- geſehen, und iſt eine Vorſtellung a priori, die nothwendi- ger Weiſe aͤuſſeren Erſcheinungen zum Grunde liegt.
3) Auf dieſe Nothwendigkeit a priori gruͤndet ſich die apodictiſche Gewißheit aller geometriſchen Grundſaͤtze, und die Moͤglichkeit ihrer Conſtructionen a priori. Waͤre nemlich dieſe Vorſtellung des Raums ein a poſteriori er- worbener Begriff, der aus der allgemeinen aͤuſſeren Er- fahrung geſchoͤpft waͤre, ſo wuͤrden die erſten Grundſaͤtze der mathematiſchen Beſtimmung nichts als Wahrnehmun- gen ſeyn. Sie haͤtten alſo alle Zufaͤlligkeit der Wahrneh- mung, und es waͤre eben nicht nothwendig, daß zwiſchen zween Puncten nur eine gerade Linie ſey, ſondern die Erfahrung wuͤrde es ſo iederzeit lehren. Was von der Erfahrung entlehnt iſt, hat auch nur comparative Allge- meinheit, nemlich durch Induction. Man wuͤrde alſo nur ſagen koͤnnen, ſo viel zur Zeit noch bemerkt worden, iſt kein Raum gefunden worden, der mehr als drey Ab- meſſungen haͤtte.
4) Der Raum iſt kein diſcurſiver, oder, wie man ſagt, allgemeiner Begriff von Verhaͤltniſſen der Dinge
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Elementarlehre. I. Th. Transſc. Aeſthetik.
2) Der Raum iſt eine nothwendige Vorſtellung, a
priori, die allen aͤuſſeren Anſchauungen zum Grunde liegt.
Man kan ſich niemals eine Vorſtellung davon machen, daß
kein Raum ſey, ob man ſich gleich ganz wohl denken kan,
daß keine Gegenſtaͤnde darin angetroffen werden. Er wird
alſo als die Bedingung der Moͤglichkeit der Erſcheinungen,
und nicht als eine von ihnen abhaͤngende Beſtimmung an-
geſehen, und iſt eine Vorſtellung a priori, die nothwendi-
ger Weiſe aͤuſſeren Erſcheinungen zum Grunde liegt.
3) Auf dieſe Nothwendigkeit a priori gruͤndet ſich
die apodictiſche Gewißheit aller geometriſchen Grundſaͤtze,
und die Moͤglichkeit ihrer Conſtructionen a priori. Waͤre
nemlich dieſe Vorſtellung des Raums ein a poſteriori er-
worbener Begriff, der aus der allgemeinen aͤuſſeren Er-
fahrung geſchoͤpft waͤre, ſo wuͤrden die erſten Grundſaͤtze
der mathematiſchen Beſtimmung nichts als Wahrnehmun-
gen ſeyn. Sie haͤtten alſo alle Zufaͤlligkeit der Wahrneh-
mung, und es waͤre eben nicht nothwendig, daß zwiſchen
zween Puncten nur eine gerade Linie ſey, ſondern die
Erfahrung wuͤrde es ſo iederzeit lehren. Was von der
Erfahrung entlehnt iſt, hat auch nur comparative Allge-
meinheit, nemlich durch Induction. Man wuͤrde alſo
nur ſagen koͤnnen, ſo viel zur Zeit noch bemerkt worden,
iſt kein Raum gefunden worden, der mehr als drey Ab-
meſſungen haͤtte.
4) Der Raum iſt kein diſcurſiver, oder, wie man
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/54>, abgerufen am 27.11.2024.
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