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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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VII. Absch. Critische Entscheidung des cosmol. etc.
einander entgegengesezte Urtheile eine unstatthafte Bedin-
gung voraussetzen, so fallen sie, unerachtet ihres Wider-
streits (der gleichwol kein eigentlicher Widerspruch ist),
alle beide weg, weil die Bedingung wegfällt, unter der
allein ieder dieser Sätze gelten solte.

Wenn iemand sagte: ein ieder Cörper riecht entwe-
der gut, oder er riecht nicht gut, so findet ein Drittes statt,
nemlich: daß er gar nicht rieche, (ausdufte) und so kön-
nen beide widerstreitende Sätze falsch seyn. Sage ich,
er ist entweder wolriechend, oder er ist nicht wolriechend:
(vel suaueolens vel non suaueolens) so sind beide Ur-
theile einander contradictorisch entgegengesezt und nur der
erste ist falsch, sein contradictorisches Gegentheil aber,
nemlich einige Cörper sind nicht wolriechend, befaßt auch
die Cörper in sich, die gar nicht riechen. In der vori-
gen Entgegenstellung (per disparata) blieb die zufällige
Bedingung des Begriffs der Cörper (der Geruch) noch bey
dem widerstreitenden Urtheile, und wurde durch dieses
also nicht mit aufgehoben, daher war das leztere nicht das
contradictorische Gegentheil des ersteren.

Sage ich demnach: die Welt ist dem Raume nach
entweder unendlich, oder sie ist nicht unendlich (non est
infinitus
), so muß, wenn der erstere Satz falsch ist, sein
contradictorisches Gegentheil: die Welt ist nicht unendlich,
wahr seyn. Dadurch würde ich nur eine unendliche Welt
aufheben ohne eine andere, nemlich die endliche, zu setzen.

Hiesse
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VII. Abſch. Critiſche Entſcheidung des cosmol. ꝛc.
einander entgegengeſezte Urtheile eine unſtatthafte Bedin-
gung vorausſetzen, ſo fallen ſie, unerachtet ihres Wider-
ſtreits (der gleichwol kein eigentlicher Widerſpruch iſt),
alle beide weg, weil die Bedingung wegfaͤllt, unter der
allein ieder dieſer Saͤtze gelten ſolte.

Wenn iemand ſagte: ein ieder Coͤrper riecht entwe-
der gut, oder er riecht nicht gut, ſo findet ein Drittes ſtatt,
nemlich: daß er gar nicht rieche, (ausdufte) und ſo koͤn-
nen beide widerſtreitende Saͤtze falſch ſeyn. Sage ich,
er iſt entweder wolriechend, oder er iſt nicht wolriechend:
(vel ſuaueolens vel non ſuaueolens) ſo ſind beide Ur-
theile einander contradictoriſch entgegengeſezt und nur der
erſte iſt falſch, ſein contradictoriſches Gegentheil aber,
nemlich einige Coͤrper ſind nicht wolriechend, befaßt auch
die Coͤrper in ſich, die gar nicht riechen. In der vori-
gen Entgegenſtellung (per diſparata) blieb die zufaͤllige
Bedingung des Begriffs der Coͤrper (der Geruch) noch bey
dem widerſtreitenden Urtheile, und wurde durch dieſes
alſo nicht mit aufgehoben, daher war das leztere nicht das
contradictoriſche Gegentheil des erſteren.

Sage ich demnach: die Welt iſt dem Raume nach
entweder unendlich, oder ſie iſt nicht unendlich (non eſt
infinitus
), ſo muß, wenn der erſtere Satz falſch iſt, ſein
contradictoriſches Gegentheil: die Welt iſt nicht unendlich,
wahr ſeyn. Dadurch wuͤrde ich nur eine unendliche Welt
aufheben ohne eine andere, nemlich die endliche, zu ſetzen.

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[503/0533] VII. Abſch. Critiſche Entſcheidung des cosmol. ꝛc. einander entgegengeſezte Urtheile eine unſtatthafte Bedin- gung vorausſetzen, ſo fallen ſie, unerachtet ihres Wider- ſtreits (der gleichwol kein eigentlicher Widerſpruch iſt), alle beide weg, weil die Bedingung wegfaͤllt, unter der allein ieder dieſer Saͤtze gelten ſolte. Wenn iemand ſagte: ein ieder Coͤrper riecht entwe- der gut, oder er riecht nicht gut, ſo findet ein Drittes ſtatt, nemlich: daß er gar nicht rieche, (ausdufte) und ſo koͤn- nen beide widerſtreitende Saͤtze falſch ſeyn. Sage ich, er iſt entweder wolriechend, oder er iſt nicht wolriechend: (vel ſuaueolens vel non ſuaueolens) ſo ſind beide Ur- theile einander contradictoriſch entgegengeſezt und nur der erſte iſt falſch, ſein contradictoriſches Gegentheil aber, nemlich einige Coͤrper ſind nicht wolriechend, befaßt auch die Coͤrper in ſich, die gar nicht riechen. In der vori- gen Entgegenſtellung (per diſparata) blieb die zufaͤllige Bedingung des Begriffs der Coͤrper (der Geruch) noch bey dem widerſtreitenden Urtheile, und wurde durch dieſes alſo nicht mit aufgehoben, daher war das leztere nicht das contradictoriſche Gegentheil des erſteren. Sage ich demnach: die Welt iſt dem Raume nach entweder unendlich, oder ſie iſt nicht unendlich (non eſt infinitus), ſo muß, wenn der erſtere Satz falſch iſt, ſein contradictoriſches Gegentheil: die Welt iſt nicht unendlich, wahr ſeyn. Dadurch wuͤrde ich nur eine unendliche Welt aufheben ohne eine andere, nemlich die endliche, zu ſetzen. Hieſſe I i 4

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/533>, abgerufen am 22.11.2024.