VII. Absch. Critische Entscheidung des cosmol. etc.
ihrer Kentniß (d. i. zu ihnen selbst, denn sie sind nichts, als empirische Kentnisse) gelange, so kan ich nicht in eben der Bedeutung sagen: wenn das Bedingte gegeben ist, so sind auch alle Bedingungen (als Erscheinungen) zu demselben gegeben, und kan mithin auf die absolute Totalität der Reihe derselben keinesweges schliessen. Denn die Erscheinungen sind, in der Apprehension, selber nichts anders, als eine empirische Synthesis (im Raume und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben. Nun folgt es gar nicht: daß, wenn das Bedingte (in der Er- scheinung) gegeben ist, auch die Synthesis, die seine em- pirische Bedingung ausmacht, dadurch mit gegeben und vorausgesezt sey, sondern diese findet allererst im Regres- sus, und niemals ohne denselben, statt. Aber das kan man wol in einem solchen Falle sagen: daß ein Regressus zu den Bedingungen, d. i. eine fortgesezte empirische Syn- thesis auf dieser Seite geboten oder aufgegeben sey, und daß es nicht an Bedingungen fehlen könne, die durch die- sen Regressus gegeben werden.
Hieraus erhellet: daß der Obersatz des cosmologi- schen Vernunftschlusses das Bedingte in transscendentaler Bedeutung einer reinen Categorie, der Untersatz aber in empirischer Bedeutung eines auf blosse Erscheinungen an- gewandten Verstandesbegriffs nehmen, folglich derienige dialectische Betrug darin angetroffen werde, den man So- phisma figurae dictionis nent. Dieses Betrug ist aber
nicht
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VII. Abſch. Critiſche Entſcheidung des cosmol. ꝛc.
ihrer Kentniß (d. i. zu ihnen ſelbſt, denn ſie ſind nichts, als empiriſche Kentniſſe) gelange, ſo kan ich nicht in eben der Bedeutung ſagen: wenn das Bedingte gegeben iſt, ſo ſind auch alle Bedingungen (als Erſcheinungen) zu demſelben gegeben, und kan mithin auf die abſolute Totalitaͤt der Reihe derſelben keinesweges ſchlieſſen. Denn die Erſcheinungen ſind, in der Apprehenſion, ſelber nichts anders, als eine empiriſche Syntheſis (im Raume und der Zeit) und ſind alſo nur in dieſer gegeben. Nun folgt es gar nicht: daß, wenn das Bedingte (in der Er- ſcheinung) gegeben iſt, auch die Syntheſis, die ſeine em- piriſche Bedingung ausmacht, dadurch mit gegeben und vorausgeſezt ſey, ſondern dieſe findet allererſt im Regreſ- ſus, und niemals ohne denſelben, ſtatt. Aber das kan man wol in einem ſolchen Falle ſagen: daß ein Regreſſus zu den Bedingungen, d. i. eine fortgeſezte empiriſche Syn- theſis auf dieſer Seite geboten oder aufgegeben ſey, und daß es nicht an Bedingungen fehlen koͤnne, die durch die- ſen Regreſſus gegeben werden.
Hieraus erhellet: daß der Oberſatz des cosmologi- ſchen Vernunftſchluſſes das Bedingte in transſcendentaler Bedeutung einer reinen Categorie, der Unterſatz aber in empiriſcher Bedeutung eines auf bloſſe Erſcheinungen an- gewandten Verſtandesbegriffs nehmen, folglich derienige dialectiſche Betrug darin angetroffen werde, den man So- phisma figurae dictionis nent. Dieſes Betrug iſt aber
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VII. Abſch. Critiſche Entſcheidung des cosmol. ꝛc.
ihrer Kentniß (d. i. zu ihnen ſelbſt, denn ſie ſind nichts,
als empiriſche Kentniſſe) gelange, ſo kan ich nicht in
eben der Bedeutung ſagen: wenn das Bedingte gegeben
iſt, ſo ſind auch alle Bedingungen (als Erſcheinungen)
zu demſelben gegeben, und kan mithin auf die abſolute
Totalitaͤt der Reihe derſelben keinesweges ſchlieſſen. Denn
die Erſcheinungen ſind, in der Apprehenſion, ſelber
nichts anders, als eine empiriſche Syntheſis (im Raume
und der Zeit) und ſind alſo nur in dieſer gegeben. Nun
folgt es gar nicht: daß, wenn das Bedingte (in der Er-
ſcheinung) gegeben iſt, auch die Syntheſis, die ſeine em-
piriſche Bedingung ausmacht, dadurch mit gegeben und
vorausgeſezt ſey, ſondern dieſe findet allererſt im Regreſ-
ſus, und niemals ohne denſelben, ſtatt. Aber das kan
man wol in einem ſolchen Falle ſagen: daß ein Regreſſus
zu den Bedingungen, d. i. eine fortgeſezte empiriſche Syn-
theſis auf dieſer Seite geboten oder aufgegeben ſey, und
daß es nicht an Bedingungen fehlen koͤnne, die durch die-
ſen Regreſſus gegeben werden.
Hieraus erhellet: daß der Oberſatz des cosmologi-
ſchen Vernunftſchluſſes das Bedingte in transſcendentaler
Bedeutung einer reinen Categorie, der Unterſatz aber in
empiriſcher Bedeutung eines auf bloſſe Erſcheinungen an-
gewandten Verſtandesbegriffs nehmen, folglich derienige
dialectiſche Betrug darin angetroffen werde, den man So-
phisma figurae dictionis nent. Dieſes Betrug iſt aber
nicht
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/529>, abgerufen am 25.11.2024.
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