Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptst.
So ist der Empirismus der transscendental-idealisirenden Vernunft aller Popularität gänzlich beraubt und, so viel Nachtheiliges wider die oberste practische Grundsätze sie auch enthalten mag, so ist doch gar nicht zu besorgen: daß sie die Gränzen der Schule iemals überschreiten und im gemeinen Wesen ein, nur einiger massen beträchtliches, An- sehen und einige Gunst bey der grossen Menge erwerben werde.
Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach archi- tectonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkentnisse, als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Principien, die eine vorhabende Erkentniß we- nigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen zusammen zu stehen. Die Sätze der Anti- thesis sind aber von der Art: daß sie die Vollendung eines Gebäudes von Erkentnissen gänzlich unmöglich machen. Nach ihnen giebt es über einen Zustand der Welt immer einen noch älteren, in iedem Theile immer noch andere wiederum theilbare, vor ieder Begebenheit eine andere, die wiederum eben so wol anderweitig erzeugt war, und im Daseyn überhaupt alles immer nur bedingt, ohne ir- gend ein unbedingtes und erstes Daseyn anzuerkennen. Da also die Antithesis nirgend ein Erstes einräumt und keinen Anfang, der schlechthin zum Grunde des Baues dienen könte, so ist ein vollständiges Gebäude der Erkent- niß, bey dergleichen Voraussetzungen, gänzlich unmöglich.
Daher
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
So iſt der Empirismus der transſcendental-idealiſirenden Vernunft aller Popularitaͤt gaͤnzlich beraubt und, ſo viel Nachtheiliges wider die oberſte practiſche Grundſaͤtze ſie auch enthalten mag, ſo iſt doch gar nicht zu beſorgen: daß ſie die Graͤnzen der Schule iemals uͤberſchreiten und im gemeinen Weſen ein, nur einiger maſſen betraͤchtliches, An- ſehen und einige Gunſt bey der groſſen Menge erwerben werde.
Die menſchliche Vernunft iſt ihrer Natur nach archi- tectoniſch, d. i. ſie betrachtet alle Erkentniſſe, als gehoͤrig zu einem moͤglichen Syſtem, und verſtattet daher auch nur ſolche Principien, die eine vorhabende Erkentniß we- nigſtens nicht unfaͤhig machen, in irgend einem Syſtem mit anderen zuſammen zu ſtehen. Die Saͤtze der Anti- theſis ſind aber von der Art: daß ſie die Vollendung eines Gebaͤudes von Erkentniſſen gaͤnzlich unmoͤglich machen. Nach ihnen giebt es uͤber einen Zuſtand der Welt immer einen noch aͤlteren, in iedem Theile immer noch andere wiederum theilbare, vor ieder Begebenheit eine andere, die wiederum eben ſo wol anderweitig erzeugt war, und im Daſeyn uͤberhaupt alles immer nur bedingt, ohne ir- gend ein unbedingtes und erſtes Daſeyn anzuerkennen. Da alſo die Antitheſis nirgend ein Erſtes einraͤumt und keinen Anfang, der ſchlechthin zum Grunde des Baues dienen koͤnte, ſo iſt ein vollſtaͤndiges Gebaͤude der Erkent- niß, bey dergleichen Vorausſetzungen, gaͤnzlich unmoͤglich.
Daher
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Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
So iſt der Empirismus der transſcendental-idealiſirenden
Vernunft aller Popularitaͤt gaͤnzlich beraubt und, ſo viel
Nachtheiliges wider die oberſte practiſche Grundſaͤtze ſie
auch enthalten mag, ſo iſt doch gar nicht zu beſorgen: daß
ſie die Graͤnzen der Schule iemals uͤberſchreiten und im
gemeinen Weſen ein, nur einiger maſſen betraͤchtliches, An-
ſehen und einige Gunſt bey der groſſen Menge erwerben
werde.
Die menſchliche Vernunft iſt ihrer Natur nach archi-
tectoniſch, d. i. ſie betrachtet alle Erkentniſſe, als gehoͤrig
zu einem moͤglichen Syſtem, und verſtattet daher auch
nur ſolche Principien, die eine vorhabende Erkentniß we-
nigſtens nicht unfaͤhig machen, in irgend einem Syſtem
mit anderen zuſammen zu ſtehen. Die Saͤtze der Anti-
theſis ſind aber von der Art: daß ſie die Vollendung eines
Gebaͤudes von Erkentniſſen gaͤnzlich unmoͤglich machen.
Nach ihnen giebt es uͤber einen Zuſtand der Welt immer
einen noch aͤlteren, in iedem Theile immer noch andere
wiederum theilbare, vor ieder Begebenheit eine andere,
die wiederum eben ſo wol anderweitig erzeugt war, und
im Daſeyn uͤberhaupt alles immer nur bedingt, ohne ir-
gend ein unbedingtes und erſtes Daſeyn anzuerkennen.
Da alſo die Antitheſis nirgend ein Erſtes einraͤumt und
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/504>, abgerufen am 25.11.2024.
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