Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite
II. Anmerkung
zur Antithesis.

Der Vertheidiger der Allvermögenheit der Natur
(transscendentale Physiocratie), im Widerspiel mit der
Lehre von der Freiheit, würde seinen Satz, gegen die
vernünftelnde Schlüsse der lezteren, auf folgende Art be-
haupten. Wenn ihr kein mathematisch Erstes der
Zeit nach in der Welt annehmt, so habt ihr auch nicht
nöthig, ein dynamisch Erstes der Caussalität nach zu
suchen. Wer hat euch geheissen, einen schlechthin ersten
Zustand der Welt, und mithin einen absoluten Anfang
der nach und nach ablaufenden Reihe der Erscheinungen
zu erdenken, und, damit ihr eurer Einbildung einen Ru-
hepunct verschaffen möget, der unumschränkten Natur
Gränzen zu setzen. Da die Substanzen in der Welt ie-
derzeit gewesen sind, wenigstens die Einheit der Erfahrung
eine solche Voraussetzung nothwendig macht, so hat es
keine Schwierigkeit auch anzunehmen: daß der Wechsel
ihrer Zustände, d. i. eine Reihe ihrer Veränderungen ie-
derzeit gewesen sey, und mithin kein erster Anfang, we-
der mathematisch, noch dynamisch, gesucht werden dürfe.
Die Möglichkeit einer solchen unendlichen Abstammung,
ohne ein erstes Glied, in Ansehung dessen alles übrige
blos nachfolgend ist, läßt sich, seiner Möglichkeit nach,
nicht begreiflich machen. Aber wenn ihr diese Naturräth-
sel darum wegwerfen wollt, so werdet ihr euch genöthigt
sehen, viel synthetische Grundbeschaffenheiten zu verwer-
fen, (Grundkräfte) die ihr eben so wenig begreifen könt,

und
F f
II. Anmerkung
zur Antitheſis.

Der Vertheidiger der Allvermoͤgenheit der Natur
(transſcendentale Phyſiocratie), im Widerſpiel mit der
Lehre von der Freiheit, wuͤrde ſeinen Satz, gegen die
vernuͤnftelnde Schluͤſſe der lezteren, auf folgende Art be-
haupten. Wenn ihr kein mathematiſch Erſtes der
Zeit nach in der Welt annehmt, ſo habt ihr auch nicht
noͤthig, ein dynamiſch Erſtes der Cauſſalitaͤt nach zu
ſuchen. Wer hat euch geheiſſen, einen ſchlechthin erſten
Zuſtand der Welt, und mithin einen abſoluten Anfang
der nach und nach ablaufenden Reihe der Erſcheinungen
zu erdenken, und, damit ihr eurer Einbildung einen Ru-
hepunct verſchaffen moͤget, der unumſchraͤnkten Natur
Graͤnzen zu ſetzen. Da die Subſtanzen in der Welt ie-
derzeit geweſen ſind, wenigſtens die Einheit der Erfahrung
eine ſolche Vorausſetzung nothwendig macht, ſo hat es
keine Schwierigkeit auch anzunehmen: daß der Wechſel
ihrer Zuſtaͤnde, d. i. eine Reihe ihrer Veraͤnderungen ie-
derzeit geweſen ſey, und mithin kein erſter Anfang, we-
der mathematiſch, noch dynamiſch, geſucht werden duͤrfe.
Die Moͤglichkeit einer ſolchen unendlichen Abſtammung,
ohne ein erſtes Glied, in Anſehung deſſen alles uͤbrige
blos nachfolgend iſt, laͤßt ſich, ſeiner Moͤglichkeit nach,
nicht begreiflich machen. Aber wenn ihr dieſe Naturraͤth-
ſel darum wegwerfen wollt, ſo werdet ihr euch genoͤthigt
ſehen, viel ſynthetiſche Grundbeſchaffenheiten zu verwer-
fen, (Grundkraͤfte) die ihr eben ſo wenig begreifen koͤnt,

und
F f
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <pb facs="#f0479" n="[449]"/>
                    <div next="#f0481" xml:id="f0479" prev="#f0477" n="8">
                      <div n="9">
                        <div n="10">
                          <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Anmerkung<lb/><hi rendition="#g">zur Antithe&#x017F;is</hi>.</hi> </head><lb/>
                          <p xml:id="f0479p">Der Vertheidiger der Allvermo&#x0364;genheit der Natur<lb/>
(trans&#x017F;cendentale Phy&#x017F;iocratie), im Wider&#x017F;piel mit der<lb/>
Lehre von der Freiheit, wu&#x0364;rde &#x017F;einen Satz, gegen die<lb/>
vernu&#x0364;nftelnde Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e der lezteren, auf folgende Art be-<lb/>
haupten. Wenn ihr kein mathemati&#x017F;ch Er&#x017F;tes der<lb/>
Zeit nach in der Welt annehmt, &#x017F;o habt ihr auch nicht<lb/>
no&#x0364;thig, ein dynami&#x017F;ch Er&#x017F;tes der Cau&#x017F;&#x017F;alita&#x0364;t nach zu<lb/>
&#x017F;uchen. Wer hat euch gehei&#x017F;&#x017F;en, einen &#x017F;chlechthin er&#x017F;ten<lb/>
Zu&#x017F;tand der Welt, und mithin einen ab&#x017F;oluten Anfang<lb/>
der nach und nach ablaufenden Reihe der Er&#x017F;cheinungen<lb/>
zu erdenken, und, damit ihr eurer Einbildung einen Ru-<lb/>
hepunct ver&#x017F;chaffen mo&#x0364;get, der unum&#x017F;chra&#x0364;nkten Natur<lb/>
Gra&#x0364;nzen zu &#x017F;etzen. Da die Sub&#x017F;tanzen in der Welt ie-<lb/>
derzeit gewe&#x017F;en &#x017F;ind, wenig&#x017F;tens die Einheit der Erfahrung<lb/>
eine &#x017F;olche Voraus&#x017F;etzung nothwendig macht, &#x017F;o hat es<lb/>
keine Schwierigkeit auch anzunehmen: daß der Wech&#x017F;el<lb/>
ihrer Zu&#x017F;ta&#x0364;nde, d. i. eine Reihe ihrer Vera&#x0364;nderungen ie-<lb/>
derzeit gewe&#x017F;en &#x017F;ey, und mithin kein er&#x017F;ter Anfang, we-<lb/>
der mathemati&#x017F;ch, noch dynami&#x017F;ch, ge&#x017F;ucht werden du&#x0364;rfe.<lb/>
Die Mo&#x0364;glichkeit einer &#x017F;olchen unendlichen Ab&#x017F;tammung,<lb/>
ohne ein er&#x017F;tes Glied, in An&#x017F;ehung de&#x017F;&#x017F;en alles u&#x0364;brige<lb/>
blos nachfolgend i&#x017F;t, la&#x0364;ßt &#x017F;ich, &#x017F;einer Mo&#x0364;glichkeit nach,<lb/>
nicht begreiflich machen. Aber wenn ihr die&#x017F;e Naturra&#x0364;th-<lb/>
&#x017F;el darum wegwerfen wollt, &#x017F;o werdet ihr euch geno&#x0364;thigt<lb/>
&#x017F;ehen, viel &#x017F;yntheti&#x017F;che Grundbe&#x017F;chaffenheiten zu verwer-<lb/>
fen, (Grundkra&#x0364;fte) die ihr eben &#x017F;o wenig begreifen ko&#x0364;nt,<lb/></p>
                        </div>
                      </div>
                    </div>
                    <fw place="bottom" type="sig">F f</fw>
                    <fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[449]/0479] II. Anmerkung zur Antitheſis. Der Vertheidiger der Allvermoͤgenheit der Natur (transſcendentale Phyſiocratie), im Widerſpiel mit der Lehre von der Freiheit, wuͤrde ſeinen Satz, gegen die vernuͤnftelnde Schluͤſſe der lezteren, auf folgende Art be- haupten. Wenn ihr kein mathematiſch Erſtes der Zeit nach in der Welt annehmt, ſo habt ihr auch nicht noͤthig, ein dynamiſch Erſtes der Cauſſalitaͤt nach zu ſuchen. Wer hat euch geheiſſen, einen ſchlechthin erſten Zuſtand der Welt, und mithin einen abſoluten Anfang der nach und nach ablaufenden Reihe der Erſcheinungen zu erdenken, und, damit ihr eurer Einbildung einen Ru- hepunct verſchaffen moͤget, der unumſchraͤnkten Natur Graͤnzen zu ſetzen. Da die Subſtanzen in der Welt ie- derzeit geweſen ſind, wenigſtens die Einheit der Erfahrung eine ſolche Vorausſetzung nothwendig macht, ſo hat es keine Schwierigkeit auch anzunehmen: daß der Wechſel ihrer Zuſtaͤnde, d. i. eine Reihe ihrer Veraͤnderungen ie- derzeit geweſen ſey, und mithin kein erſter Anfang, we- der mathematiſch, noch dynamiſch, geſucht werden duͤrfe. Die Moͤglichkeit einer ſolchen unendlichen Abſtammung, ohne ein erſtes Glied, in Anſehung deſſen alles uͤbrige blos nachfolgend iſt, laͤßt ſich, ſeiner Moͤglichkeit nach, nicht begreiflich machen. Aber wenn ihr dieſe Naturraͤth- ſel darum wegwerfen wollt, ſo werdet ihr euch genoͤthigt ſehen, viel ſynthetiſche Grundbeſchaffenheiten zu verwer- fen, (Grundkraͤfte) die ihr eben ſo wenig begreifen koͤnt, und F f

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/479
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. [449]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/479>, abgerufen am 23.11.2024.