werden kan. Besser würde man sich doch, und mit we- niger Gefahr des Mißverständnisses ausdrücken, wenn man sagte: daß wir vom Obiect, welches einer Idee correspon- dirt, keine Kentniß, obzwar einen problematischen Begriff haben können.
Nun beruhet wenigstens die transscendentale (sub- iective) Realität der reinen Vernunftbegriffe darauf: daß wir durch einen nothwendigen Vernunftschluß auf solche Ideen gebracht werden. Also wird es Vernunftschlüsse geben, die keine empirische Prämissen enthalten und ver- mittelst deren wir von etwas, das wir kennen, auf et- was anderes schliessen, wovon wir doch keinen Begriff ha- ben und dem wir gleichwol, durch einen unvermeidlichen Schein, obiective Realität geben. Dergleichen Schlüsse sind in Ansehung ihres Resultats also eher vernünftelnde, als Vernunftschlüsse zu nennen; wiewol sie, ihrer Ver- anlassung wegen, wol den lezteren Namen führen können, weil sie doch nicht erdichtet, oder zufällig entstanden, son- dern aus der Natur der Vernunft entsprungen sind. Es sind Sophisticationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrthum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwakt und äfft, niemals völ- lig los werden kan.
Dieser dialectischen Vernunftschlüsse giebt es also nur dreierley Arten, so vielfach, als die Ideen sind, auf
die
Y 2
Von den dialect. Schluͤſſen d. r. Vernunft.
werden kan. Beſſer wuͤrde man ſich doch, und mit we- niger Gefahr des Mißverſtaͤndniſſes ausdruͤcken, wenn man ſagte: daß wir vom Obiect, welches einer Idee correſpon- dirt, keine Kentniß, obzwar einen problematiſchen Begriff haben koͤnnen.
Nun beruhet wenigſtens die transſcendentale (ſub- iective) Realitaͤt der reinen Vernunftbegriffe darauf: daß wir durch einen nothwendigen Vernunftſchluß auf ſolche Ideen gebracht werden. Alſo wird es Vernunftſchluͤſſe geben, die keine empiriſche Praͤmiſſen enthalten und ver- mittelſt deren wir von etwas, das wir kennen, auf et- was anderes ſchlieſſen, wovon wir doch keinen Begriff ha- ben und dem wir gleichwol, durch einen unvermeidlichen Schein, obiective Realitaͤt geben. Dergleichen Schluͤſſe ſind in Anſehung ihres Reſultats alſo eher vernuͤnftelnde, als Vernunftſchluͤſſe zu nennen; wiewol ſie, ihrer Ver- anlaſſung wegen, wol den lezteren Namen fuͤhren koͤnnen, weil ſie doch nicht erdichtet, oder zufaͤllig entſtanden, ſon- dern aus der Natur der Vernunft entſprungen ſind. Es ſind Sophiſticationen, nicht der Menſchen, ſondern der reinen Vernunft ſelbſt, von denen ſelbſt der Weiſeſte unter allen Menſchen ſich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemuͤhung den Irrthum verhuͤten, den Schein aber, der ihn unaufhoͤrlich zwakt und aͤfft, niemals voͤl- lig los werden kan.
Dieſer dialectiſchen Vernunftſchluͤſſe giebt es alſo nur dreierley Arten, ſo vielfach, als die Ideen ſind, auf
die
Y 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><pbfacs="#f0369"n="339"/><fwplace="top"type="header">Von den dialect. Schluͤſſen d. r. Vernunft.</fw><lb/>
werden kan. Beſſer wuͤrde man ſich doch, und mit we-<lb/>
niger Gefahr des Mißverſtaͤndniſſes ausdruͤcken, wenn man<lb/>ſagte: daß wir vom Obiect, welches einer Idee correſpon-<lb/>
dirt, keine Kentniß, obzwar einen problematiſchen Begriff<lb/>
haben koͤnnen.</p><lb/><p>Nun beruhet wenigſtens die transſcendentale (ſub-<lb/>
iective) Realitaͤt der reinen Vernunftbegriffe darauf: daß<lb/>
wir durch einen nothwendigen Vernunftſchluß auf ſolche<lb/>
Ideen gebracht werden. Alſo wird es Vernunftſchluͤſſe<lb/>
geben, die keine empiriſche Praͤmiſſen enthalten und ver-<lb/>
mittelſt deren wir von etwas, das wir kennen, auf et-<lb/>
was anderes ſchlieſſen, wovon wir doch keinen Begriff ha-<lb/>
ben und dem wir gleichwol, durch einen unvermeidlichen<lb/>
Schein, obiective Realitaͤt geben. Dergleichen Schluͤſſe<lb/>ſind in Anſehung ihres Reſultats alſo eher vernuͤnftelnde,<lb/>
als Vernunftſchluͤſſe zu nennen; wiewol ſie, ihrer Ver-<lb/>
anlaſſung wegen, wol den lezteren Namen fuͤhren koͤnnen,<lb/>
weil ſie doch nicht erdichtet, oder zufaͤllig entſtanden, ſon-<lb/>
dern aus der Natur der Vernunft entſprungen ſind. Es<lb/>ſind Sophiſticationen, nicht der Menſchen, ſondern der<lb/>
reinen Vernunft ſelbſt, von denen ſelbſt der Weiſeſte unter<lb/>
allen Menſchen ſich nicht losmachen, und vielleicht zwar<lb/>
nach vieler Bemuͤhung den Irrthum verhuͤten, den Schein<lb/>
aber, der ihn unaufhoͤrlich zwakt und aͤfft, niemals voͤl-<lb/>
lig los werden kan.</p><lb/><p>Dieſer dialectiſchen Vernunftſchluͤſſe giebt es alſo<lb/>
nur dreierley Arten, ſo vielfach, als die Ideen ſind, auf<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Y 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">die</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[339/0369]
Von den dialect. Schluͤſſen d. r. Vernunft.
werden kan. Beſſer wuͤrde man ſich doch, und mit we-
niger Gefahr des Mißverſtaͤndniſſes ausdruͤcken, wenn man
ſagte: daß wir vom Obiect, welches einer Idee correſpon-
dirt, keine Kentniß, obzwar einen problematiſchen Begriff
haben koͤnnen.
Nun beruhet wenigſtens die transſcendentale (ſub-
iective) Realitaͤt der reinen Vernunftbegriffe darauf: daß
wir durch einen nothwendigen Vernunftſchluß auf ſolche
Ideen gebracht werden. Alſo wird es Vernunftſchluͤſſe
geben, die keine empiriſche Praͤmiſſen enthalten und ver-
mittelſt deren wir von etwas, das wir kennen, auf et-
was anderes ſchlieſſen, wovon wir doch keinen Begriff ha-
ben und dem wir gleichwol, durch einen unvermeidlichen
Schein, obiective Realitaͤt geben. Dergleichen Schluͤſſe
ſind in Anſehung ihres Reſultats alſo eher vernuͤnftelnde,
als Vernunftſchluͤſſe zu nennen; wiewol ſie, ihrer Ver-
anlaſſung wegen, wol den lezteren Namen fuͤhren koͤnnen,
weil ſie doch nicht erdichtet, oder zufaͤllig entſtanden, ſon-
dern aus der Natur der Vernunft entſprungen ſind. Es
ſind Sophiſticationen, nicht der Menſchen, ſondern der
reinen Vernunft ſelbſt, von denen ſelbſt der Weiſeſte unter
allen Menſchen ſich nicht losmachen, und vielleicht zwar
nach vieler Bemuͤhung den Irrthum verhuͤten, den Schein
aber, der ihn unaufhoͤrlich zwakt und aͤfft, niemals voͤl-
lig los werden kan.
Dieſer dialectiſchen Vernunftſchluͤſſe giebt es alſo
nur dreierley Arten, ſo vielfach, als die Ideen ſind, auf
die
Y 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/369>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.