menstimt, ist kein Irrthum. In einer Vorstellung der Sinne ist (weil sie gar kein Urtheil enthält) auch kein Irr- thum. Keine Kraft der Natur kan aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen. Daher würden weder der Verstand, vor sich allein (ohne Einfluß einer andern Ursache) noch die Sinne, vor sich, irren; der erstere darum nicht, weil, wenn er blos nach seinen Gesetzen han- delt, die Wirkung (das Urtheil) mit diesen Gesetzen noth- wendig übereinstimmen muß. In der Uebereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes besteht aber das formale aller Wahrheit. In den Sinnen ist gar kein Urtheil, we- der ein wahres noch falsches. Weil wir nun ausser diesen beiden Erkentnißquellen keine andere haben, so folgt: daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Ein- fluß der Sinnlichkeit auf den Verstand, bewirkt werde, wodurch es geschieht: daß subiective Gründe des Urtheils mit den obiectiven zusammenfliessen, und diese von ihrer Bestimmung abweichend machen,*) so wie ein bewegter Cörper zwar vor sich iederzeit die gerade Linie in derselben Richtung halten würde, die aber, wenn eine andere Kraft nach einer anderen Richtung zugleich auf ihn einfließt, in krumlinigte Bewegung ausschlägt. Um die eigenthüm-
liche
*) Die Sinnlichkeit, dem Verstande untergelegt, als das Obiect, worauf dieser seine Function anwendet, ist der Quell realer Erkentnisse. Eben dieselbe aber, so fern sie auf die Verstandeshandlung selbst einfließt, und ihn zum Urtheilen bestimt, ist der Grund des Irrthums.
Elementarl. II. Th. II. Abth. Die transſc. Dyal.
menſtimt, iſt kein Irrthum. In einer Vorſtellung der Sinne iſt (weil ſie gar kein Urtheil enthaͤlt) auch kein Irr- thum. Keine Kraft der Natur kan aber von ſelbſt von ihren eigenen Geſetzen abweichen. Daher wuͤrden weder der Verſtand, vor ſich allein (ohne Einfluß einer andern Urſache) noch die Sinne, vor ſich, irren; der erſtere darum nicht, weil, wenn er blos nach ſeinen Geſetzen han- delt, die Wirkung (das Urtheil) mit dieſen Geſetzen noth- wendig uͤbereinſtimmen muß. In der Uebereinſtimmung mit den Geſetzen des Verſtandes beſteht aber das formale aller Wahrheit. In den Sinnen iſt gar kein Urtheil, we- der ein wahres noch falſches. Weil wir nun auſſer dieſen beiden Erkentnißquellen keine andere haben, ſo folgt: daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Ein- fluß der Sinnlichkeit auf den Verſtand, bewirkt werde, wodurch es geſchieht: daß ſubiective Gruͤnde des Urtheils mit den obiectiven zuſammenflieſſen, und dieſe von ihrer Beſtimmung abweichend machen,*) ſo wie ein bewegter Coͤrper zwar vor ſich iederzeit die gerade Linie in derſelben Richtung halten wuͤrde, die aber, wenn eine andere Kraft nach einer anderen Richtung zugleich auf ihn einfließt, in krumlinigte Bewegung ausſchlaͤgt. Um die eigenthuͤm-
liche
*) Die Sinnlichkeit, dem Verſtande untergelegt, als das Obiect, worauf dieſer ſeine Function anwendet, iſt der Quell realer Erkentniſſe. Eben dieſelbe aber, ſo fern ſie auf die Verſtandeshandlung ſelbſt einfließt, und ihn zum Urtheilen beſtimt, iſt der Grund des Irrthums.
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Elementarl. II. Th. II. Abth. Die transſc. Dyal.
menſtimt, iſt kein Irrthum. In einer Vorſtellung der
Sinne iſt (weil ſie gar kein Urtheil enthaͤlt) auch kein Irr-
thum. Keine Kraft der Natur kan aber von ſelbſt von
ihren eigenen Geſetzen abweichen. Daher wuͤrden weder
der Verſtand, vor ſich allein (ohne Einfluß einer andern
Urſache) noch die Sinne, vor ſich, irren; der erſtere
darum nicht, weil, wenn er blos nach ſeinen Geſetzen han-
delt, die Wirkung (das Urtheil) mit dieſen Geſetzen noth-
wendig uͤbereinſtimmen muß. In der Uebereinſtimmung
mit den Geſetzen des Verſtandes beſteht aber das formale
aller Wahrheit. In den Sinnen iſt gar kein Urtheil, we-
der ein wahres noch falſches. Weil wir nun auſſer
dieſen beiden Erkentnißquellen keine andere haben, ſo
folgt: daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Ein-
fluß der Sinnlichkeit auf den Verſtand, bewirkt werde,
wodurch es geſchieht: daß ſubiective Gruͤnde des Urtheils
mit den obiectiven zuſammenflieſſen, und dieſe von ihrer
Beſtimmung abweichend machen, *) ſo wie ein bewegter
Coͤrper zwar vor ſich iederzeit die gerade Linie in derſelben
Richtung halten wuͤrde, die aber, wenn eine andere Kraft
nach einer anderen Richtung zugleich auf ihn einfließt, in
krumlinigte Bewegung ausſchlaͤgt. Um die eigenthuͤm-
liche
*) Die Sinnlichkeit, dem Verſtande untergelegt, als das
Obiect, worauf dieſer ſeine Function anwendet, iſt der
Quell realer Erkentniſſe. Eben dieſelbe aber, ſo fern ſie
auf die Verſtandeshandlung ſelbſt einfließt, und ihn zum
Urtheilen beſtimt, iſt der Grund des Irrthums.
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/324>, abgerufen am 16.02.2025.
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