Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Absch. Systemat. Vorstellung aller etc.
Verfasser, wider den Sinn der Mathematiker, denen er
doch eigentlich angehört, gegeben haben, nemlich: daß
Postuliren so viel heissen solle, als einen Satz vor unmit-
telbar gewiß, ohne Rechtfertigung, oder Beweis ausge-
ben; denn, wenn wir das bey synthetischen Sätzen, so
evident sie auch seyn mögen, einräumen sollten, daß man
sie ohne Deduction, auf das Ansehen ihres eigenen Aus-
spruchs, dem unbedingten Beyfalle aufheften dürfe, so
ist alle Critik des Verstandes verloren, und, da es an
dreusten Anmassungen nicht fehlt, deren sich auch der ge-
meine Glaube, (der aber kein Creditiv ist) nicht weigert;
so wird unser Verstand iedem Wahne offen stehen, ohne
daß er seinen Beyfall denen Aussprüchen versagen kan,
die, obgleich unrechtmäßig, doch in eben demselben To-
ne der Zuversicht, als wirkliche Axiomen eingelassen zu
werden verlangen. Wenn also zu dem Begriffe eines
Dinges eine Bestimmung a priori synthetisch hinzukomt,
so muß von einem solchen Satze, wo nicht ein Beweis,
doch wenigstens eine Deduction der Rechtmäßigkeit seiner
Behauptung unnachlaßlich hinzugefügt werden.

Die Grundsätze der Modalität sind aber nicht ob-
iectivsynthetisch, weil die Prädicate der Möglichkeit, Wirk-
lichkeit und Nothwendigkeit den Begriff, von dem sie ge-
sagt werden, nicht im mindesten vermehren, dadurch daß
sie der Vorstellung des Gegenstandes noch etwas hinzusezten.
Da sie aber gleichwol doch immer synthetisch seyn, so sind

sie
P 5

III. Abſch. Syſtemat. Vorſtellung aller ꝛc.
Verfaſſer, wider den Sinn der Mathematiker, denen er
doch eigentlich angehoͤrt, gegeben haben, nemlich: daß
Poſtuliren ſo viel heiſſen ſolle, als einen Satz vor unmit-
telbar gewiß, ohne Rechtfertigung, oder Beweis ausge-
ben; denn, wenn wir das bey ſynthetiſchen Saͤtzen, ſo
evident ſie auch ſeyn moͤgen, einraͤumen ſollten, daß man
ſie ohne Deduction, auf das Anſehen ihres eigenen Aus-
ſpruchs, dem unbedingten Beyfalle aufheften duͤrfe, ſo
iſt alle Critik des Verſtandes verloren, und, da es an
dreuſten Anmaſſungen nicht fehlt, deren ſich auch der ge-
meine Glaube, (der aber kein Creditiv iſt) nicht weigert;
ſo wird unſer Verſtand iedem Wahne offen ſtehen, ohne
daß er ſeinen Beyfall denen Ausſpruͤchen verſagen kan,
die, obgleich unrechtmaͤßig, doch in eben demſelben To-
ne der Zuverſicht, als wirkliche Axiomen eingelaſſen zu
werden verlangen. Wenn alſo zu dem Begriffe eines
Dinges eine Beſtimmung a priori ſynthetiſch hinzukomt,
ſo muß von einem ſolchen Satze, wo nicht ein Beweis,
doch wenigſtens eine Deduction der Rechtmaͤßigkeit ſeiner
Behauptung unnachlaßlich hinzugefuͤgt werden.

Die Grundſaͤtze der Modalitaͤt ſind aber nicht ob-
iectivſynthetiſch, weil die Praͤdicate der Moͤglichkeit, Wirk-
lichkeit und Nothwendigkeit den Begriff, von dem ſie ge-
ſagt werden, nicht im mindeſten vermehren, dadurch daß
ſie der Vorſtellung des Gegenſtandes noch etwas hinzuſezten.
Da ſie aber gleichwol doch immer ſynthetiſch ſeyn, ſo ſind

ſie
P 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0263" n="233"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Ab&#x017F;ch. Sy&#x017F;temat. Vor&#x017F;tellung aller &#xA75B;c.</fw><lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;er, wider den Sinn der Mathematiker, denen er<lb/>
doch eigentlich angeho&#x0364;rt, gegeben haben, nemlich: daß<lb/>
Po&#x017F;tuliren &#x017F;o viel hei&#x017F;&#x017F;en &#x017F;olle, als einen Satz vor unmit-<lb/>
telbar gewiß, ohne Rechtfertigung, oder Beweis ausge-<lb/>
ben; denn, wenn wir das bey &#x017F;yntheti&#x017F;chen Sa&#x0364;tzen, &#x017F;o<lb/>
evident &#x017F;ie auch &#x017F;eyn mo&#x0364;gen, einra&#x0364;umen &#x017F;ollten, daß man<lb/>
&#x017F;ie ohne Deduction, auf das An&#x017F;ehen ihres eigenen Aus-<lb/>
&#x017F;pruchs, dem unbedingten Beyfalle aufheften du&#x0364;rfe, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t alle Critik des Ver&#x017F;tandes verloren, und, da es an<lb/>
dreu&#x017F;ten Anma&#x017F;&#x017F;ungen nicht fehlt, deren &#x017F;ich auch der ge-<lb/>
meine Glaube, (der aber kein Creditiv i&#x017F;t) nicht weigert;<lb/>
&#x017F;o wird un&#x017F;er Ver&#x017F;tand iedem Wahne offen &#x017F;tehen, ohne<lb/>
daß er &#x017F;einen Beyfall denen Aus&#x017F;pru&#x0364;chen ver&#x017F;agen kan,<lb/>
die, obgleich unrechtma&#x0364;ßig, doch in eben dem&#x017F;elben To-<lb/>
ne der Zuver&#x017F;icht, als wirkliche Axiomen eingela&#x017F;&#x017F;en zu<lb/>
werden verlangen. Wenn al&#x017F;o zu dem Begriffe eines<lb/>
Dinges eine Be&#x017F;timmung <hi rendition="#aq">a priori</hi> &#x017F;yntheti&#x017F;ch hinzukomt,<lb/>
&#x017F;o muß von einem &#x017F;olchen Satze, wo nicht ein Beweis,<lb/>
doch wenig&#x017F;tens eine Deduction der Rechtma&#x0364;ßigkeit &#x017F;einer<lb/>
Behauptung unnachlaßlich hinzugefu&#x0364;gt werden.</p><lb/>
                    <p>Die Grund&#x017F;a&#x0364;tze der Modalita&#x0364;t &#x017F;ind aber nicht ob-<lb/>
iectiv&#x017F;yntheti&#x017F;ch, weil die Pra&#x0364;dicate der Mo&#x0364;glichkeit, Wirk-<lb/>
lichkeit und Nothwendigkeit den Begriff, von dem &#x017F;ie ge-<lb/>
&#x017F;agt werden, nicht im minde&#x017F;ten vermehren, dadurch daß<lb/>
&#x017F;ie der Vor&#x017F;tellung des Gegen&#x017F;tandes noch etwas hinzu&#x017F;ezten.<lb/>
Da &#x017F;ie aber gleichwol doch immer &#x017F;yntheti&#x017F;ch &#x017F;eyn, &#x017F;o &#x017F;ind<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 5</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ie</fw><lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0263] III. Abſch. Syſtemat. Vorſtellung aller ꝛc. Verfaſſer, wider den Sinn der Mathematiker, denen er doch eigentlich angehoͤrt, gegeben haben, nemlich: daß Poſtuliren ſo viel heiſſen ſolle, als einen Satz vor unmit- telbar gewiß, ohne Rechtfertigung, oder Beweis ausge- ben; denn, wenn wir das bey ſynthetiſchen Saͤtzen, ſo evident ſie auch ſeyn moͤgen, einraͤumen ſollten, daß man ſie ohne Deduction, auf das Anſehen ihres eigenen Aus- ſpruchs, dem unbedingten Beyfalle aufheften duͤrfe, ſo iſt alle Critik des Verſtandes verloren, und, da es an dreuſten Anmaſſungen nicht fehlt, deren ſich auch der ge- meine Glaube, (der aber kein Creditiv iſt) nicht weigert; ſo wird unſer Verſtand iedem Wahne offen ſtehen, ohne daß er ſeinen Beyfall denen Ausſpruͤchen verſagen kan, die, obgleich unrechtmaͤßig, doch in eben demſelben To- ne der Zuverſicht, als wirkliche Axiomen eingelaſſen zu werden verlangen. Wenn alſo zu dem Begriffe eines Dinges eine Beſtimmung a priori ſynthetiſch hinzukomt, ſo muß von einem ſolchen Satze, wo nicht ein Beweis, doch wenigſtens eine Deduction der Rechtmaͤßigkeit ſeiner Behauptung unnachlaßlich hinzugefuͤgt werden. Die Grundſaͤtze der Modalitaͤt ſind aber nicht ob- iectivſynthetiſch, weil die Praͤdicate der Moͤglichkeit, Wirk- lichkeit und Nothwendigkeit den Begriff, von dem ſie ge- ſagt werden, nicht im mindeſten vermehren, dadurch daß ſie der Vorſtellung des Gegenſtandes noch etwas hinzuſezten. Da ſie aber gleichwol doch immer ſynthetiſch ſeyn, ſo ſind ſie P 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/263
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/263>, abgerufen am 25.11.2024.