willen über, dem Anscheine nach, so ruhmredige und unbescheidene Ansprüche wahrzunehmen, und gleich- wol sind sie ohne Vergleichung gemässigter, als die, eines ieden Verfassers des gemeinesten Programs, der darin etwa die einfache Natur der Seele, oder die Nothwendigkeit eines ersten Weltanfanges zu bewei- sen vorgiebt. Denn dieser macht sich anheischig, die menschliche Erkentniß über alle Gränzen möglicher Er- fahrung hinaus zu erweitern, wovon ich demüthig ge- stehe: daß dieses mein Vermögen gänzlich übersteige, an dessen Statt ich es lediglich mit der Vernunft selbst und ihrem reinen Denken zu thun habe, nach deren ausführlicher Kentniß ich nicht weit um mich suchen darf, weil ich sie in mir selbst antreffe und wovon mir auch schon die gemeine Logik ein Beispiel giebt, daß sich alle ihre einfache Handlungen völlig und systema- tisch aufzählen lassen; nur daß hier die Frage aufge- worfen wird, wie viel ich mit derselben, wenn mir aller Stoff und Beistand der Erfahrung genommen wird, etwa auszurichten hoffen dürfe.
So viel von der Vollständigkeit in Erreichung eines ieden, und der Ausführlichkeit in Erreichung aller Zwecke zusammen, die nicht ein beliebiger Vor- satz, sondern die Natur der Erkentniß selbst uns auf- giebt, als der Materie unserer critischen Untersuchung.
Noch
Vorrede.
willen uͤber, dem Anſcheine nach, ſo ruhmredige und unbeſcheidene Anſpruͤche wahrzunehmen, und gleich- wol ſind ſie ohne Vergleichung gemaͤſſigter, als die, eines ieden Verfaſſers des gemeineſten Programs, der darin etwa die einfache Natur der Seele, oder die Nothwendigkeit eines erſten Weltanfanges zu bewei- ſen vorgiebt. Denn dieſer macht ſich anheiſchig, die menſchliche Erkentniß uͤber alle Graͤnzen moͤglicher Er- fahrung hinaus zu erweitern, wovon ich demuͤthig ge- ſtehe: daß dieſes mein Vermoͤgen gaͤnzlich uͤberſteige, an deſſen Statt ich es lediglich mit der Vernunft ſelbſt und ihrem reinen Denken zu thun habe, nach deren ausfuͤhrlicher Kentniß ich nicht weit um mich ſuchen darf, weil ich ſie in mir ſelbſt antreffe und wovon mir auch ſchon die gemeine Logik ein Beiſpiel giebt, daß ſich alle ihre einfache Handlungen voͤllig und ſyſtema- tiſch aufzaͤhlen laſſen; nur daß hier die Frage aufge- worfen wird, wie viel ich mit derſelben, wenn mir aller Stoff und Beiſtand der Erfahrung genommen wird, etwa auszurichten hoffen duͤrfe.
So viel von der Vollſtaͤndigkeit in Erreichung eines ieden, und der Ausfuͤhrlichkeit in Erreichung aller Zwecke zuſammen, die nicht ein beliebiger Vor- ſatz, ſondern die Natur der Erkentniß ſelbſt uns auf- giebt, als der Materie unſerer critiſchen Unterſuchung.
Noch
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[0020]
Vorrede.
willen uͤber, dem Anſcheine nach, ſo ruhmredige und
unbeſcheidene Anſpruͤche wahrzunehmen, und gleich-
wol ſind ſie ohne Vergleichung gemaͤſſigter, als die,
eines ieden Verfaſſers des gemeineſten Programs, der
darin etwa die einfache Natur der Seele, oder die
Nothwendigkeit eines erſten Weltanfanges zu bewei-
ſen vorgiebt. Denn dieſer macht ſich anheiſchig, die
menſchliche Erkentniß uͤber alle Graͤnzen moͤglicher Er-
fahrung hinaus zu erweitern, wovon ich demuͤthig ge-
ſtehe: daß dieſes mein Vermoͤgen gaͤnzlich uͤberſteige,
an deſſen Statt ich es lediglich mit der Vernunft ſelbſt
und ihrem reinen Denken zu thun habe, nach deren
ausfuͤhrlicher Kentniß ich nicht weit um mich ſuchen
darf, weil ich ſie in mir ſelbſt antreffe und wovon mir
auch ſchon die gemeine Logik ein Beiſpiel giebt, daß
ſich alle ihre einfache Handlungen voͤllig und ſyſtema-
tiſch aufzaͤhlen laſſen; nur daß hier die Frage aufge-
worfen wird, wie viel ich mit derſelben, wenn mir
aller Stoff und Beiſtand der Erfahrung genommen
wird, etwa auszurichten hoffen duͤrfe.
So viel von der Vollſtaͤndigkeit in Erreichung
eines ieden, und der Ausfuͤhrlichkeit in Erreichung
aller Zwecke zuſammen, die nicht ein beliebiger Vor-
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/20>, abgerufen am 30.12.2024.
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