gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Be- wustseyn verbunden ist, Wahrnehmung heißt, (ohne das Verhältniß zu einem, wenigstens möglichen Bewustseyn, würde Erscheinung vor uns niemals ein Gegenstand der Erkentniß werden können, und also vor uns nichts seyn, und weil sie an sich selbst keine obiective Realität hat, und nur im Erkentnisse existirt, überall nichts seyn.) Weil aber iede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüthe an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nöthig, welche sie in dem Sinne selbst nicht ha- ben können. Es ist also in uns ein thätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungs- kraft nennen und deren unmittelbar an den Wahrneh- mungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne*). Die Einbildungskraft soll nemlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Thätigkeit aufnehmen, d. i. apprehendi- ren.
Es
*) Daß die Einbildungskraft ein nothwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst sey, daran hat wol noch kein Psychologe gedacht. Das komt daher, weil man dieses Vermögen theils nur auf Reproductionen einschränkte, theils, weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern sezten solche auch so gar zusam- men, und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel ausser der Empfänglichkeit der Eindrücke, noch etwas mehr, nemlich eine Function der Synthesis derselben erfordert wird.
Elementarl. II. Th. I. Abth. I. Buch. II. Haupſt.
gegeben wird, iſt Erſcheinung, welche, wenn ſie mit Be- wuſtſeyn verbunden iſt, Wahrnehmung heißt, (ohne das Verhaͤltniß zu einem, wenigſtens moͤglichen Bewuſtſeyn, wuͤrde Erſcheinung vor uns niemals ein Gegenſtand der Erkentniß werden koͤnnen, und alſo vor uns nichts ſeyn, und weil ſie an ſich ſelbſt keine obiective Realitaͤt hat, und nur im Erkentniſſe exiſtirt, uͤberall nichts ſeyn.) Weil aber iede Erſcheinung ein Mannigfaltiges enthaͤlt, mithin verſchiedene Wahrnehmungen im Gemuͤthe an ſich zerſtreuet und einzeln angetroffen werden, ſo iſt eine Verbindung derſelben noͤthig, welche ſie in dem Sinne ſelbſt nicht ha- ben koͤnnen. Es iſt alſo in uns ein thaͤtiges Vermoͤgen der Syntheſis dieſes Mannigfaltigen, welches wir Einbildungs- kraft nennen und deren unmittelbar an den Wahrneh- mungen ausgeuͤbte Handlung ich Apprehenſion nenne*). Die Einbildungskraft ſoll nemlich das Mannigfaltige der Anſchauung in ein Bild bringen; vorher muß ſie alſo die Eindruͤcke in ihre Thaͤtigkeit aufnehmen, d. i. apprehendi- ren.
Es
*) Daß die Einbildungskraft ein nothwendiges Ingredienz der Wahrnehmung ſelbſt ſey, daran hat wol noch kein Pſychologe gedacht. Das komt daher, weil man dieſes Vermoͤgen theils nur auf Reproductionen einſchraͤnkte, theils, weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindruͤcke, ſondern ſezten ſolche auch ſo gar zuſam- men, und braͤchten Bilder der Gegenſtaͤnde zuwege, wozu ohne Zweifel auſſer der Empfaͤnglichkeit der Eindruͤcke, noch etwas mehr, nemlich eine Function der Syntheſis derſelben erfordert wird.
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Elementarl. II. Th. I. Abth. I. Buch. II. Haupſt.
gegeben wird, iſt Erſcheinung, welche, wenn ſie mit Be-
wuſtſeyn verbunden iſt, Wahrnehmung heißt, (ohne das
Verhaͤltniß zu einem, wenigſtens moͤglichen Bewuſtſeyn,
wuͤrde Erſcheinung vor uns niemals ein Gegenſtand der
Erkentniß werden koͤnnen, und alſo vor uns nichts ſeyn,
und weil ſie an ſich ſelbſt keine obiective Realitaͤt hat, und
nur im Erkentniſſe exiſtirt, uͤberall nichts ſeyn.) Weil
aber iede Erſcheinung ein Mannigfaltiges enthaͤlt, mithin
verſchiedene Wahrnehmungen im Gemuͤthe an ſich zerſtreuet
und einzeln angetroffen werden, ſo iſt eine Verbindung
derſelben noͤthig, welche ſie in dem Sinne ſelbſt nicht ha-
ben koͤnnen. Es iſt alſo in uns ein thaͤtiges Vermoͤgen der
Syntheſis dieſes Mannigfaltigen, welches wir Einbildungs-
kraft nennen und deren unmittelbar an den Wahrneh-
mungen ausgeuͤbte Handlung ich Apprehenſion nenne *).
Die Einbildungskraft ſoll nemlich das Mannigfaltige der
Anſchauung in ein Bild bringen; vorher muß ſie alſo die
Eindruͤcke in ihre Thaͤtigkeit aufnehmen, d. i. apprehendi-
ren.
Es
*) Daß die Einbildungskraft ein nothwendiges Ingredienz
der Wahrnehmung ſelbſt ſey, daran hat wol noch kein
Pſychologe gedacht. Das komt daher, weil man dieſes
Vermoͤgen theils nur auf Reproductionen einſchraͤnkte,
theils, weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht
allein Eindruͤcke, ſondern ſezten ſolche auch ſo gar zuſam-
men, und braͤchten Bilder der Gegenſtaͤnde zuwege, wozu
ohne Zweifel auſſer der Empfaͤnglichkeit der Eindruͤcke,
noch etwas mehr, nemlich eine Function der Syntheſis
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/150>, abgerufen am 16.07.2024.
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